Solange die Vorstellung überwog, Mediennutzung bedeute primär die eher passive Rezeption eines Angebots, ging es bei strategischen Überlegungen im Kern nur um die Frage der Selektion. Mediennutzungsstrategien waren Auswahlstrategien – welches Buch, welchen Film, welche Musik oder welche Radio- bzw. Fernsehsendung will ich rezipieren? Da den einzelnen Angeboten zumeist eindeutige Funktionen zugeordnet waren, ließ die Wahl sofort erkennen, ob sich jemand unterhalten oder informieren will und welche besonderen Interessen vorliegen. Bei den weiteren Nutzungsschritten, der Rezeption selbst, kamen nutzungsstrategische Überlegungen allenfalls in Ausnahmefällen wie anhand von GfK-Zahlen nachgewiesenen Kanalwechseln bei Fernsehsendungen in den Blick. So kam man etwa dem „Unterhaltungsslalom“ zum Ausweichen von Informationssendungen oder der Strategie der „Werbevermeidung“ auf die Spur.
Ansonsten wurde der Rezeptionsvorgang von der Angebotsseite aus interpretiert. Was vor allem interessierte, war: Wurde das Angebot in seiner Totalität verstanden? Falls nicht, war es zu kompliziert oder wurde ihm nicht die notwendige Aufmerksamkeit geschenkt? Diese binäre Einteilung in gelungene oder nicht gelungene Rezeptionsprozesse wurde natürlich mit der Durchsetzung des Konzepts des „aktiven Nutzers“ obsolet, der nicht nur auswählt, sondern auch selbst entscheidet, was er mit dem gewählten Medienangebot anfangen will. Als Konsequenz sind bis heute viele sehr unterschiedliche Umgangsweisen mit Medieninhalten festgestellt worden, von denen einige sogar vom konkreten Medieninhalt weitgehend unabhängig sind.
Am Anfang jeder Mediennutzung steht eine strategische Grundsatzfrage: Wie viel Aufwand bin ich bereit zu betreiben, um im besten Fall welches Ergebnis zu erzielen? Diese Frage klingt zwar einfach, beinhaltet aber viele Faktoren, die im Rahmen einer komplexen Kosten-Nutzen-Abwägung berücksichtigt werden müssen. Wie viel Zeit und Aufmerksamkeit möchte ich investieren? Wie viel Vorwissen und wie viel emotionale Beteiligung? Bin ich bereit, Nutzungsrisiken einzugehen? Wähle ich eher ein völlig unbekanntes Angebot, das ich möglicherweise ganz toll finde, vielleicht aber auch furchtbar? Oder stütze ich mich bei meiner Wahl lieber auf frühere Nutzungserlebnisse und entscheide mich für Vertrautes, wodurch ich mir Enttäuschungen erspare?
Bei allen Varianten geht es um Optimierung, was als Konsequenz auch eine Multiplikation der Typen gelungener bzw. nicht gelungener Rezeptionsprozesse bedeutet. Als gelungen wird nicht nur empfunden, wenn ich beispielsweise mit hohem intellektuellen und emotionalen Einsatz aufmerksam einen komplexen Film verfolge, der sich meines Einsatzes als würdig erweist. Ebenfalls gelungen ist ein Fernsehabend, an dem ich mäßig gelangweilt bei einem Serienkrimi hängen bleibe, der zwar nicht besonders spannend ist, aber ich sehe halt den Hauptdarsteller gern. Im ersten Fall investiere ich viel und erwarte ein intensives Erlebnis, im zweiten gebe ich wenig und erwarte wenig. Derartige Grundsatzentscheidungen sind bei jedem Medium und jedem Nutzungsinteresse zu treffen – egal ob es um Film, Musik, Radio oder Fernsehen geht, egal ob ich situativ informations- oder unterhaltungsorientiert bin oder eine Interessenmischung vorliegt. Solche Entscheidungen sind sowohl bei instrumenteller Mediennutzung zu treffen, also bei gezielter Zuwendung zu bestimmten Medieninhalten, als auch bei habitualisierter bzw. ritualisierter Nutzung. Dieser zweite Fall bedeutet den mehr oder weniger unbewussten Rekurs auf früher einmal getroffene Entscheidungen in spezifischen Nutzungssituationen.
In der Fachliteratur sind auch zahlreiche Nutzungsstrategien beschrieben worden, bei denen relativ abstrakte Ziele im Vordergrund stehen, auf die man bei inhaltsanalytischer Untersuchung der genutzten Inhalte nicht so leicht stoßen würde. Geradezu ein Klassiker in dieser Hinsicht ist die Tagesschau der ARD: Immer wieder wurde festgestellt, dass sie in zu kurzer Zeit zu viele Themen in schwer verständlicher Sprache abhandelt, was ihre Beliebtheit nachweislich aber nicht beeinträchtigt hat. Ein Erklärungsansatz dafür rekurriert auf den Status der Sendung – die Tagesschau ist nicht nur eine Nachrichtensendung, sie ist die Nachrichtensendung. Das bedeutet, sie vermittelt nicht lediglich Informationen, sondern das Gefühl, informiert zu sein.
Eine recht gut erforschte Strategie der Mediennutzung ist das Mood-Management. Damit ist gemeint, dass Medieninhalte als Mittel zur Stimmungsregulierung benutzt werden, also etwa bei hoher innerer Anspannung eher Entspannung gesucht wird und bei Langeweile eher Spannendes. Strategische Bedeutung können auch einzelne Nutzungsziele bekommen, wenn sie eindeutig im Vordergrund stehen – so die parasoziale Interaktion, das Eingehen einer vorgestellten, einer Als-ob-Beziehung mit Medienakteuren, als Ersatz oder Erweiterung realer persönlicher Kommunikation. Vergleichbares gilt für verschiedene Nutzungsziele, die unter dem Begriff „Selbstgenuss“ zusammengefasst werden können. Dazu gehört beispielsweise das genussvolle Erleben eigener Kompetenz – als virtueller Quizkandidat vor dem Bildschirm etwa, als jedem Sportreporter an Fachwissen überlegener Fußballzuschauer oder als Filmexperte, der bei den eigenen Lieblingsfilmen jedes Detail kennt. Eine völlig andere Form von Selbstgenuss ermöglichen Berichte über tragische Ereignisse oder die fiktionalen Angebotsformen Melodram und Tragödie – in Mitleid und Empathie erleben wir uns zu starken Gefühlen fähig.
Vor allem in Singlehaushalten kann außerdem eine Nutzungsstrategie beobachtet werden, bei der Inhalte völlig beliebig sind: Man kommt von der Arbeit nach Hause und schaltet als Erstes Radio oder Fernsehen an – nicht um etwas Bestimmtes zu hören und/oder zu sehen, sondern um sich symbolisch mit der Welt da draußen zu koppeln. Jenseits aller Medieninhalte empfange ich auf diese Weise eine ganz besonders wichtige Botschaft: Ich bin nicht allein.
Dieser Beitrag ist in der aktuellen tv diskurs 82 Mehr als Kommunikation. Mediennutzung in der digitalen Welt erschienen.