Reality-TV

Als der Begriff „Reality-TV“ um 1990 erstmals in Deutschland verwendet wurde, diente er zur Kennzeichnung eines neuen aus den USA importierten Fernsehgenres. Gegenstand von „Reality“ waren zunächst vor allem dramatische Polizei- und Rettungsaktionen, die in Formaten wie Top Cops (Auf Leben und Tod, RTL) oder Rescue 911 (Notruf, RTL) nachgespielt wurden. Bis heute hat sich das Spektrum von „Reality“ immer mehr erweitert: Egal ob Casting-, Coaching-, Gerichts-, Koch- oder Makeover-Show, ob Doku-, Ermittler- oder Real-Life-Soap vom Typ Big Brother (um nur einige wenige Beispiele zu nennen), das Ergebnis gilt immer irgendwie als „Reality“.

Genremischung im Reality-TV

Die Bandbreite der als Reality-TV etikettierten Formate (einen nachhaltigen Eindruck vermittelt die Internetseite realitytvworld.com) legt die Vermutung nahe, dass es sich dabei weniger um ein Genre als vielmehr um eine Gattung handelt, also um eine nicht primär inhaltlich, sondern formal eigenständige Angebotsform des Fernsehens. Diese Vermutung wird auch dadurch gestützt, dass Kerninhalte von „Reality“ dem deutschen Fernsehpublikum seit Jahrzehnten vertraut sind. Beispielsweise suchte schon in den ersten Fernsehjahren Peter Frankenfeld neue Talente und Clemens Wilmenrods Kochshow präsentierte fantasievolle Benennungen für zeitgemäß eher schlichte Rezepte. Wenig später tagte bereits das Fernsehgericht, in Aktenzeichen XY … ungelöst wurden Verdächtige gesucht, und für praktische Lebenshilfe sorgten erste Ratgebersendungen wie Das Rasthaus und Gesundheitsmagazin Praxis.
Von solchen Vorläufern unterscheidet sich Reality-TV durch seinen kombinatorischen Ansatz: Reality-TV vermischt Genres, darunter auch solche, die traditionell als unvereinbar gelten, also fiktionale mit nonfiktionalen. Reality- TV ist ein Hybrid, der nicht einfach eine außermedial vorhandene Realität oder das reale Ergebnis einer medialen Inszenierung (wie z. B. einer Talentsuche) dokumentieren will, sondern mit deren Hilfe Geschichten erzählen möchte.
In sehr zurückhaltender Weise haben zwar auch dokumentarische Programmformen immer schon „Geschichten erzählt“, Reality-TV bedient sich dagegen offensiv aller Mittel filmischer Narration – angefangen bei der Charakterzeichnung über die Arbeit mit Parallelgeschichten bis hin zur Einfügung von Cliffhangern. Deutlichen Abstand hält Reality-TV aber auch zu konventionellen fiktionalen Fernsehangeboten. Zwar spielen alle Akteure in Reality-TV Rollen, die Qualität ihrer schauspielerischen Leistungen ist jedoch in der Regel sehr gering, was paradoxerweise sogar eher ein positives Merkmal darstellt. Natürlich spielen alle Akteure eine Rolle, schließlich wirken sie in einer televisionären Inszenierung mit, dass sie dies meist erkennbar unbeholfen tun, kann als Indiz einer sekundären Authentizität interpretiert werden: Da die Besetzung rollennah erfolgt, Akteure in Reality-TV also entweder sich selbst spielen oder eine Person, die ihnen im Prinzip sehr ähnlich ist, spricht laienhaftes Spiel geradezu für die Nähe von Darsteller und Rolle.

Wie komplex die Genremischungen bei Reality-TV sein können, lässt sich anhand des globalen Erfolgsformats Big Brother zeigen. Diese Produktion hat erstens eine Gameshowrahmung (es geht insgesamt um ein Spiel, und eine[r] wird am Ende gewinnen) und in Form diverser zu lösender Aufgaben weitere Spielelemente, zweitens agieren die Protagonisten in einer „Daily Soap“ in Permanenz, drittens bilden Gespräche den zentralen Inhalt von Big Brother, wodurch die Gesamtinszenierung zusätzlich in die Nähe des Genres „Talkshow“ gerät.

Auch die meisten anderen Formate, die aktuell weltweit besonders erfolgreich sind, werden üblicherweise dem Bereich „Reality- TV“ zugerechnet, z. B. Pop Idol (Deutschland sucht den Superstar), Strictly Come Dancing (Let’s Dance) und America’s Next Top Model (Germany’s Next Topmodel). Alle diese Produktionen haben erkennbar wenig mit der Art von Fernsehen zu tun, die bei der Einführung des Begriffs damit gekennzeichnet wurde, nämlich nachgespielten Polizei- und Rettungseinsätzen. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass aktuell erhebliche terminologische Unklarheit bezüglich des gemeinten Programmfeldes besteht. Obwohl Reality-TV ein eingeführter Begriff ist, konkurriert er mittlerweile mit Factual Entertainment, was die Position von Reality-TV im Angebotsspektrum des Fernsehens präzise kennzeichnet: „Factual“ macht deutlich, dass es um andere als fiktionale Unterhaltung geht; „Entertainment“, dass es um Unterhaltung geht und nicht um Bildung oder aktuelle Berichterstattung.
In der Fernsehbranche ist noch eine alternative Unterscheidung geläufig, die einmal mehr den Status von Reality-TV als Hybrid unterstreicht. Es ist dies die Einteilung von unterhaltenden Fernsehsendungen in solche mit Drehbuch und solche ohne, also in „scripted“ und „non-scripted“, wobei alle Varianten von Reality-TV konventionell zur letzteren Variante gerechnet werden. Mit der Etablierung des Genres „Scripted Reality“ (etwa durch die RTL Produktionen Verdachtsfälle, Familien im Brennpunkt oder Die Schulermittler) wurde jedoch auch diese Unterscheidung obsolet. Scripted Reality verwendet Laiendarsteller, die keine exakten Textvorgaben bekommen, sondern lediglich Rollenvorgaben, die als Grundlage zur Textimprovisation dienen. Das heißt, das Genre ist „scripted“ hinsichtlich der Rollen, aber „non-scripted“ hinsichtlich der Dialoge.

Der Realitätsgehalt des Gezeigten ist tatsächlich nicht leicht zu ermitteln: Viele Gestaltungsmittel sind dem Dokumentarismus entlehnt (z. B. „Wackelkamera“, Off-Kommentar), die kurzen aufklärenden Texthinweise dürften im Nachmittagsprogramm nur auf geringe Aufmerksamkeit stoßen. Ob die präsentierten Geschichten „echt“, nachgespielt oder erfunden sind, ist aber offenbar für das Publikum auch nicht so wichtig. Dass Realität und „Reality“ sehr unterschiedliche Dinge sind, gehört mittlerweile zum grundlegenden Medienwissen.

Über Gerd Hallenberger

Dr. phil. habil. Gerd Hallenberger forscht als freiberuflicher Medienwissenschaftler über Fernsehunterhaltung, allgemeine Medienentwicklung und Populärkultur. Er lehrt an verschiedenen Universitäten und ist Mitglied des Kuratoriums der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF).