Ein Workshop über eine Debatte zum Dokumentarfilm
Die Filmemacherin Elke Margarete Lehrenkrauss hat heftige Wochen hinter sich. Mit der Veröffentlichung einer funk-Reportage über Lovemobil wurde ihre Arbeit über Nacht für viele zur No-go-Area für den Dokumentarfilm. Heftige Kritik von allen Seiten, öffentliche Zweifel an ihrer Integrität, bis hin zu persönlichen Morddrohungen – der Erfolg einer Filmemacherin, die bis dahin in Deutschland als Talent galt, war plötzlich nichts mehr wert. |
Das ist die eine Seite. Auf einer anderen sitzen die Zuschauer*innen, ihr Publikum. Die Teilnehmer*innen der doku.klasse beispielsweise. Sie haben im November 2020 Elke Margarete Lehrenkrauss und ihre Filme kennengelernt, auch Lovemobil. Intensiv wurde mit ihr darüber diskutiert, Nachfragen gestellt, um zu verstehen, wie es möglich ist, derart intime Situationen zu drehen. Wenige Monate danach macht die funk-Reportage die Runde. Nicht nur die Medienwelt, auch die doku.klasse hat jetzt andere Fragen als zuvor und verabredet sich mit der Regisseurin zu einem Gespräch.
„Verhaltenes Schweigen ist auch mal schön.“ Elke Margerete Lehrenkrauss
Der Gesprächseinstieg ist zurückhaltend und vorsichtiger als sonst. Lehrenkrauss übernimmt intuitiv das Intro, bricht das Eis. Es war ein „uncooler“ und „nicht zu relativierender Fehler“, die Darsteller*innen nicht zu kennzeichnen, so die Regisseurin. Für sie im Nachhinein besonders unangenehm: Auch in Gesprächen über den Film habe sie die Inszenierung unter den Tisch fallen lassen, zum Beispiel gegenüber der doku.klasse.
Der vom Film enttäuschte Teufel steckt im Detail. Die Teilnehmer*innen kommen aus der Reserve, konkrete Fragen zu inszenierten Eingriffen in die dokumentarische Erzählung auf den Tisch. Die Gruppe hangelt sich von Detail zu Detail. Und natürlich haben alle die Gespräche aus dem November noch im Hinterkopf.
Die Filmemacherin gab damals Antworten, über die sie heute sagt: „Was ich erzählt habe, hat gestimmt, aber nicht für die Protagonist*innen im Film, sondern für die aus der Recherche.“
Hört sich interessant an, wirft in der doku.klasse aber sofort neue Fragen auf. Wie sehen die Bezüge zwischen filmischer Realität, dokumentarischer Realität und der Wirklichkeit aus? Wie verhält sich die Wirklichkeit der gezeigten Menschen zur Perspektive der Regie auf sie? Oder zum Blick der Kamera? Lehrenkrauss sagt: „Wir haben Lovemobil gedreht wie einen Spielfilm. Wir wollten das nicht mit einer Wackelkamera verstecken.“
„Ich hätte auch einen Film machen können über Frauen an der Landstraße, denen es gut geht da, oder über Frauen, an derselben Landstraße, die unterdrückt werden.“ Elke Margarete Lehrenkrauss
Das Leben von Rita wurde inszeniert, oder besser gesagt: nachgestellt. Ist das das Gleiche? Für die Autorin ist es dokumentarisch, weil ihr Blick auf die Lovemobile nicht ausgedacht ist, sondern recherchiert. Ihre Perspektive sei weder neutral noch objektiv, aber auch nicht willkürlich, sondern nach drei Jahren Recherche ziemlich fundiert. Zu jedem Detail hat sie eine Erfahrung parat. Das, was der Besucher im Bordell tut, „hat er auch in der Realität getan.“ Genau deswegen hätte sie ihn gefragt, ob er mitmachen möchte.
Zwischendurch kommt das Gespräch auf den NDR-Redakteur, der ihren Film betreut hat, und der sich nun von der Autorin betrogen fühlt, sich distanziert. Die Filmemacherin hätte sich mehr Zeit mit ihm, besser noch: ein Vertrauensverhältnis, gewünscht. Die Verantwortung des Senders in diesem Prozess ist der doku.klasse zunächst nicht ganz klar. „Warum“ fragt eine Teilnehmerin, „ist es überhaupt die Aufgabe eines Redakteurs auf die Filme so genau zu gucken?“
Weil, so die Antwort des doxs!-Teams, der öffentlich-rechtliche Auftrag beinhaltet, dass der Sender im Gegensatz zu Plattformen wie Facebook und YouTube eine Verantwortung für seine Inhalte übernimmt. Redakteur*innen sind angehalten, diesen Qualitätsanspruch zu erfüllen.
Der Sender ist dabei natürlich nicht allein in der Pflicht. Auch die Filmschaffenden stehen gegenüber dem Publikum, den Darsteller*innen bzw. Protagonist*innen für Absprachen im Rahmen des Films ein. Formale Verträge sind das eine, ungeschriebene Gesetze das andere: Sie gelten implizit, weil sie beim Publikum Erwartungen kreieren, die eingelöst werden wollen. Zuschauer*innen setzen beim Dokumentarfilm eine besondere Beziehung zwischen den Menschen vor- und jenen hinter der Kamera voraus. Lovemobil habe diese Erwartungshaltung konterkariert, zeigt sich eine doxs!-Teamerin enttäuscht. Für alle, die ein emotionales Verhältnis zu den Personen im Film aufbauen, sei dieser Vertrauensbruch verletzend, meint Lehrenkrauss. Insofern könne sie nachvollziehen, dass sie Zuschauer*innen damit verstört hat.
Angestrengt fühlt sich eine doku.klasse-Teilnehmerin nicht nur ob der Komplexität der Wirklichkeitsbezüge im Film, sondern auch von der überhitzten öffentlichen Debatte darüber. Sie empfinde den medialen Diskurs als ein „HE SAID SHE SAID“-Battle und fragt die Regisseurin, wie sie damit umginge.
„Man kann das Internet auch ausmachen und die Kommentare einfach nicht lesen“.
Merken wir uns. Und danken Elke Margarete Lehrenkrauss sehr für das offene Gespräch.
Der Originalartikel ist hier abrufbar.
Weitere Artikel im fsf blog
***