„Was, wenn ein Mädchen im Holocaust Instagram gehabt hätte?“

Anfang Mai 2019 sorgte ein israelisches Social-Media-Projekt weltweit für Schlagzeilen. Zum Holocaust-Gedenktag (Yom Hashoah) in Israel wurde unter dem Namen Eva.Stories ein Instagram-Profil veröffentlicht, das die Geschichte des 13-jährigen jüdischen Mädchens Eva Heyman aus Ungarn erzählt, die 1944 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet wurde. In insgesamt 70 kurzen Videos wird Evas Geschichte ausgebreitet, die auf ihren Tagebuchaufzeichnungen basiert. Diese wurden 2012 unter dem Titel „Das rote Fahrrad“ in einer deutschen Übersetzung beim Wiener Nischen Verlag veröffentlicht. Es beginnt mit Szenen einer mehr oder minder heilen, bürgerlichen Welt Anfang 1944. Eva lebt bei ihren Großeltern in Nagyvarad, ihre kosmopolitisch, sehr modern wirkende Mutter ist viel unterwegs und wohnt bei ihrem zweiten Mann Béla Zsolt. Evas Leben dreht sich um Schule, Heimat, Träume, Freunde und Familie. Jäh bricht diese Welt zusammen, als Deutschland im März 1944 Ungarn besetzt und die Deportationen ungarischer Juden beginnen. Von da an verschlechtern sich die Umstände rapide und dramatisch. Berufsverbote, sozialer Tod, Wohnungsauflösungen, Schikane, Erniedrigung, Ghettoisierung und schließlich Deportation nach Auschwitz.

Eva.Stories übersetzt den Horror des Holocausts in die Bilder- und Clipwelt von Instagram

Eva.Stories erzählt detailliert und intim, was das konkret bedeutet. Es ist die Perspektive eines Opfers, das mit unfassbar brutalen und verstörenden Ereignissen konfrontiert ist. Die Stories sind dicht dran an den Ereignissen, aber vor allem an den Gefühlen der Menschen. Angst, Verzweiflung und Panik sind oft zu sehen, aber auch der Versuch, in den dunklen Stunden nicht die Hoffnung zu verlieren. Leider vergeblich. Wie Treibsand nimmt hier das menschengemachte Unheil seinen Lauf und es gibt für Eva kein Entrinnen. Eva.Stories übersetzt den Horror des Holocausts in heutige Social-Media-Welten und schafft damit ein intensives Reflektionsangebot für jüngere Generationen.

 

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Die Bilder-, Clip- und Storywelt von Instagram ist ein wesentlicher Teil der Mediensozialisation heutiger Jugendlicher und ermöglicht neue Ansprechhaltungen, in denen der Holocaust zeitgemäß nachvollziehbar und emotional erlebbar wird. Waren für diese Erinnerungen bisher vor allem Zeitzeugen, Museen, Gedenkstätten, großangelegte Dokumentationen (z.B. Claude Lanzmanns Shoah) oder Filme (Schindlers Liste) notwendig, so haben wir es hier mit einer Erweiterung der Möglichkeiten zu tun. Finanziert wurde das Projekt von dem israelischen Milliardär Mati Kochavi, der aus einer Familie von Holocaust-Überlebenden stammt. Er selbst sagt über das Projekt:

„Im digitalen Zeitalter, in dem die Aufmerksamkeitsspanne kurz und das Bedürfnis nach Nervenkitzel hoch ist, ist es extrem wichtig, neue Modelle der Zeugenaussagen und Erinnerung zu finden – auch angesichts der sinkenden Zahl von Holocaust-Überlebenden.“



Der Mix aus Dokumentation, Fiktionalität und Social-Media-Intimität schafft hier ein emphatisches Angebot, das Holocaust-Gedenken sehr effizient personalisiert und damit verstehbar macht. Die Eva-Clips wurden nur mit Smartphone aufgenommen, überwiegend in der Ukraine. Eva wird von der Schauspielerin Mia Quiney dargestellt.

Politische Bildung abonniert von 1,7 Millionen Nutzern 

Es gab auch mahnende Stimmen zu dem Projekt, die diese Art von Erinnerungsarbeit als zu oberflächlich kritisierten. Dem ist entgegenzuhalten, dass die Umsetzung eine hohe emotionale Wirkmächtigkeit entfaltet, die einer intensiveren Beschäftigung mit dieser Geschichte nur dienlich sein kann. Die neuere Mediengeschichte kennt mittlerweile zahlreiche Versuche, historisch signifikante Ereignisse in die Ansprechhaltungen oder Narrationen neuerer Mediensprachen zu transformieren insbesondere mit Fokus auf Twitter (Twistory). So gab es unter anderem eine Twitter-Simulation des Titanic-Unterganges und des Mauerfalls. Eva.Stories setzt dieses Konzept nun auf Instagram um. 1,7 Millionen User haben das Profil mittlerweile abonniert. Für den Bildungsbereich kann dieses Projekt beispielgebend sein, da es historische Prozesse in neue mediale Narrationsstrukturen übersetzt und damit einen Beitrag nicht nur zur politischen Bildung, sondern auch zur Herzensbildung leisten kann.

Über Uwe Breitenborn

Dr. Uwe Breitenborn, hauptamtlicher Prüfer der FSF, Dozent und Autor, Bildungsreferent der Medienwerkstatt Potsdam, zahlreiche Veröffentlichungen zur Mediengeschichte, Musiksoziologie, und Kulturwissenschaft. Von 2014-2019 Vertretung der Professur Onlinejournalismus an der Hochschule Magdeburg-Stendal. Zuvor u.a. Arbeit an der Martin-Luther-Universität Halle und beim DRA Babelsberg.