Die FSF beschäftigt sich täglich mit Fernsehen, mit den unterschiedlichsten Sendungen und Formaten – unter Jugendschutzgesichtspunkten. Aber auch fernsehähnliche Inhalte im Internet landen in unseren Prüfungen. Was liegt da näher, sich einmal mit den ästhetischen Entwicklungen dieser Inhalte in den verschiedenen Umgebungen zu beschäftigen. Christian Richter, Medienwissenschaftler und Referent für Medienbildung, forscht u.a. zu den Strategien und der Ästhetik von abrufbaren Videoangeboten. Für seine Dissertation untersuchte er die fernsehtypischen Parameter in On-Demand-Angeboten und inwieweit erkennbare Verschiebungen eine neue Version von Fernsehen begründen. Die Arbeit wurde als Buch mit dem Titel FERNSEHEN – NETFLIX – YOUTUBE. Zur Fernsehhaftigkeit von On-Demand-Angeboten veröffentlicht.
Im Gespräch mit Sandra Marquardt berichtet Christian Richter, was es mit der „Fernsehhaftigkeit von On-Demand-Angeboten“ auf sich hat.
In Ihrem Buch FERNSEHEN – NETFLIX – YOUTUBE. Zur Fernsehhaftigkeit von On-Demand-Angeboten gehen Sie der Frage nach, wie viel Fernsehen in den neuen Video-on-Demand-Angeboten (VoD) steckt. Zu welcher Antwort sind Sie gekommen?
On-Demand-Angebote wie Netflix und YouTube weisen sehr viele ästhetische und strukturelle Gemeinsamkeiten mit dem auf, was unter dem Begriff Fernsehen verstanden wird. Beide Bereiche sind beispielsweise sehr stark von seriellen Strukturen geprägt. Zugleich wirken die Online-Angebote auch inhaltlich als Echokammern des Fernsehprogramms und wiederholen Ausschnitte oder komplette Serien, die ursprünglich für eine Ausstrahlung im Fernsehen produziert wurden. Denken Sie hierbei nur an die vielen alten und neuen TV-Serien wie Breaking Bad, Big Bang Theory oder Der Tatortreiniger, die Sie bei Netflix abrufen können. Oder denken Sie an die Millionen von Clips aus Casting-, Game- oder Comedyshows, die bei YouTube zu finden sind. Ein Großteil der Online-Inhalte wird nur recycelt. Zugleich sind die eigenen Produktionen von Netflix derart fernsehtauglich, dass sie sich nahtlos ins Fernsehprogramm aufnehmen lassen – was auch regelmäßig passiert.
Mit welchen Eigenschaften würden Sie das Medium Fernsehen beschreiben?
Fernsehen zu beschreiben, ist kein leichtes Unterfangen, weil es DAS Fernsehen nie gab und sich das, was jeweils unter dem Begriff verstanden wird, ständig wandelt. Zu Beginn gab es ausschließlich staatlich-organisierte Anstalten, die nur wenige Stunden am Tag sendeten. Heute existiert ein riesiger Markt mit privaten und öffentlich-rechtlichen Anbietern. Die Einführung des Kabelfernsehens, die Umstellung auf ein 24-stündiges Programm, das Aufkommen der vielen Spartensender, die Möglichkeiten von digitalem Empfang, von EPGs, von HbbTV oder von Pay-TV-Angeboten wie Sky. All das gehört zum Fernsehen. All das beschreibt aber auch jeweils sehr unterschiedliche Zustände und Seherfahrungen. Je nach Epoche, technischem Entwicklungsstand und individuellen Empfangsmöglichkeiten hat daher jede Person eine andere Vorstellung davon, was Fernsehen ist. Es lässt sich daher kaum konstant über den Gegenstand Fernsehen sprechen, ohne dass man sich nicht nur auf eine bestimmte Version oder eine bestimmte Zeit beschränkt. Aus diesem Grund nutze ich gern den Begriff der „Fernsehhaftigkeit“.
Was verstehen Sie unter dem Begriff »Fernsehhaftigkeit«?
Trotz all der aufgeführten Unterschiede und Wandelbarkeiten existiert dennoch ein kollektives Verständnis davon, was als fernsehhaft wahrgenommen wird. Irgendwie erkennen wir Fernsehen als Fernsehen, wenn wir es sehen – auch wenn wir es nicht genau definieren können. Es handelt sich also um eine allgemeine Annahme, die aber tatsächlich davon losgelöst ist, welche Eigenschaften das Medium tatsächlich ausgebildet hat. Oft werden dafür auch solche eigentlich ungenauen Begriffe wie „klassisches“, „traditionelles“ oder „lineares Fernsehen“ benutzt.
In meinem Buch gehe ich davon aus, dass diese Fernsehhaftigkeit durch vier Merkmale geprägt wird: Das ist zunächst das Vorhandensein eines sogenannten Flows – also eines Programmablaufs, der derart konzipiert ist, dass er zum Dranbleiben animieren soll. Als zweites Merkmal sehe ich, dass das Programm grundsätzlich seriell aufgebaut ist und in allen Bereichen auf wiederholende Muster oder wenig variierende Schemata setzt. Zum dritten Aspekt einer Fernsehhaftigkeit zähle ich die Anmutung, dass sich das Programm stets im Gerade-Jetzt befindet. Bei Übertragungen von Sportereignissen oder im Fall von Sonderberichterstattungen zu Katastrophen wird diese Liveness besonders spürbar. Und viertens, wir werden durch das Fernsehbild permanent angesprochen und von Moderator:innen durch die Kamera hindurch direkt angesehen. Hierin liegt ein wesentlicher Unterschied zu den meisten (Kino-)Filmen. Denken Sie nur daran, wie häufig Sie im Fernsehen begrüßt werden:
„Guten Abend, meine Damen und Herren.“
Diese vier Elemente – Flow, Serialität, Liveness und direkte Adressierung – bestimmen für mich Fernsehhaftigkeit. Hierbei aber müssen nicht immer alle identifizierten Merkmale zur selben Zeit Anwendung finden. Je mehr Eigenschaften zu erkennen und je stärker diese Effekte zu spüren sind, desto fernsehhafter wirkt ein Angebot. Hierfür empfehle ich, sich eine Ausgabe des ZDF Fernsehgarten anzusehen – auch wenn es schwerfällt. Dieser Sendung widme ich mich in meinem Buch ausführlich, weil in ihr alle vier Eigenschaften derart deutlich hervortreten, dass es als kein Zufall mehr scheint, dass die Sendung den Begriff Fernsehen bereits im Titel trägt.
Welche Attribute machen VoD-Angebote aus? Worin bestehen Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den beiden Medienformen?
Schauen Sie sich die Liste der Merkmale an, die etwas besonders fernsehhaft erscheinen lassen. Sicher fällt Ihnen sofort auf, dass all diese Aspekte ebenso bei Angeboten wie Netflix und YouTube zu finden sind. Nur ein Beispiel: Ähnlich wie beim Fernsehprogramm, wo nach dem Ende einer Sendung nahtlos die nächste beginnt, startet bei Netflix und YouTube nach dem Ende eines Videos in der Regel automatisch das nächste. Auch dort werden Sie also verführt, um nach einem Video dranzubleiben und ein weiteres anzusehen. Bei den VoD-Angeboten greifen ähnliche Mechanismen, sie werden aber auf andere (technische) Weise erzeugt.
An genau diesen Stellen wird es spannend, nämlich wenn zwar bekannte Effekte zu beobachten sind, diese jedoch nach neuen Mustern entstehen. Dazu vielleicht noch ein anderes Beispiel: Bei YouTube kann Serialität nicht nur dadurch entstehen, dass wiederkehrende Akteure in immer wieder ähnlichen Situationen zu beobachten sind – so wie wir es in Millionen von Let’s-Play-Videos, VLogs oder Challenges auf den einschlägigen Kanälen finden können und wo eine klassische Fernseh-Serialität übernommen wird. Serialität kann auch dadurch entstehen, dass vorhandenes Ausgangsmaterial aufgegriffen, neu kommentiert, rekombiniert und umkonvertiert wird. Oft erfolgt dieser Prozess nicht nur einmal, sondern wiederholt sich hundertfach mit dem Ausgangsmaterial oder schon bereits bearbeiteten Versionen. Diese Transformation und Zirkulation von Material begründet eine neue Form von Serialität, die dem Fernsehprogramm in dieser Intensität bisher fremd ist.
Beide Sphären sind sich also zugleich nah und fern. Sie weisen eine enge Kopplung zueinander auf, sodass die eine nur in Abgrenzung zur anderen definiert werden kann. Für mich stellen die Online-Angebote daher kein neues Medium dar, sie zeigen sich vielmehr als eine neue Version von Fernsehen.
Sie attestieren der Netflix-Serie House of Cards eine ausgestellte Fernsehhaftigkeit – warum?
Zunächst weist House of Cards einen sehr klassischen Aufbau aus Jahresstaffeln und Folgen auf, bei dem jede Folge über eine ungefähr gleiche Länge verfügt. Das ist im Fernsehprogramm eigentlich der Tatsache geschuldet, dass sich die Episoden wöchentlich in ein festes, gleichbleibendes Programmschema einfügen müssen. Noch wichtiger ist für mich jedoch die Tatsache, dass die Hauptfigur Frank Underwood darin immer wieder mit den Zuschauenden spricht und sie in seine Pläne einweiht. Mir erscheint das sehr bemerkenswert, dass Netflix als sein erstes Aushängeschild ausgerechnet eine Serie auswählt, in der sich die Hauptfigur regelmäßig wie ein:e Fernsehansager:in verhält.
Ihre langjährige Beschäftigung mit den Plattformen YouTube und Netflix führte zu Ihrer Aussage, dass die beiden digitalen Medienformen für das Ende des Fernsehens, aber gleichzeitig auch für die Zukunft des Fernsehens stehen. Was meinen Sie damit?
Für dieses dialektische Verhältnis habe ich das Wort der »Televisionizität« kreiert. Er soll zum Ausdruck bringen, dass mediale Umgebungen wie Netflix und YouTube zwar als Fernsehen inszeniert werden, zugleich aber kein Fernsehen sind und auch keines sein wollen. Nehmen wir noch einmal das Beispiel House of Cards. Aus technischer und struktureller Sicht ergibt es keinen Sinn, dass die darin fortlaufend erzählte Geschichte in gleichlangen Episoden erzählt wird. Schließlich wurden jeweils alle Folgen einer Staffel am selben Tag veröffentlicht und nicht zu einer festen Sendezeit im wöchentlichen Rhythmus ausgestrahlt. Es wäre daher genauso denkbar gewesen, dass man einen 13-stündigen Film veröffentlicht, den die Zuschauenden dann jeweils an beliebiger Stelle unterbrechen können. Dennoch wird die Produktion als Fernsehserie zur Verfügung gestellt – also in einer Form, die sich eigentlich aus der Notwenigkeit eines linearen Zeitplans für das analoge Fernsehen ableitet.
Aber warum übernehmen Plattformen wie YouTube und Netflix derartige Merkmale?
Nach meiner Überzeugung werden solche Eigenschaften und Formen übernommen, weil sie durch eine ritualisierte Nutzung des Fernsehprogramms bereits bestens vertraut sind und längst derart verinnerlicht wurden, dass sie auch ohne jegliche Erläuterung verständlich sind. Dies erleichtert den Zugang und hilft bei der Verbreitung der Angebote. Gleichzeitig wird aber betont, dass man als Nutzer:in etwa durch den jederzeitigen Abruf der gesamten Staffel eine größere Freiheit gegenüber einer Fernsehausstrahlung genießen würde. On-Demand Angebote wie Netflix und YouTube erzeugen also durch ihre Imitation von fernsehhaften Merkmalen ein vertrautes Gefühl und ein bekanntes Erlebnis, versprechen jedoch zugleich, dieses erweitern und optimieren zu wollen. Sie bieten daher scheinbar ein Fernsehen jenseits des Fernsehens an. Dabei aber darf nicht übersehen werden, dass auch in diesen Umgebungen eine Reihe von Beschränkungen und Disziplinierungen vorgenommen werden, weswegen sich diese scheinbare Freiheit oft als eine Illusion herausschält.
Worin sehen Sie die Vorzüge des Fernsehens im Zeitalter von Streamingdiensten? Was macht das Fernsehen unverwechselbar aus – und resultiert daraus Ihre Annahme, Streaminganbieter stellen keine neue Bedrohung für das Fernsehen dar?
Durch seine zeitliche Verbindlichkeit und grundsätzlich serielle Form eignet sich das Fernsehprogramm sehr gut für Ritualisierungen und gesellschaftliche Synchronisationsprozesse. Nur der vehementen und verbindlichen Ausstrahlung der allabendlichen Tagesschau haben wir es beispielsweise zu verdanken, dass in Deutschland der Abend auch außerhalb des Fernsehens um 20.15 Uhr beginnt. Zudem lassen sich durch die zeitliche Verbindlichkeit gemeinsame Seherlebnisse (etwa bei Fußballweltmeisterschaften) erzeugen und Meta-Kommunikationen realisieren. Etwa, wenn parallel zur Ausstrahlung des neuen Tatorts über diesen getwittert wird oder man in sozialen Medien auswerten kann, ob der Rauswurf einer Kandidatin bei Germany’s Next Topmodel gerechtfertigt ist. Eine solche Ritualisierung und Synchronisation ist bei Programmen von Netflix und YouTube zwar grundsätzlich (z.T. über Umwege) auch möglich, die Anordnungen haben allerdings mit ihren Individualisierungsversprechen eine andere Ausrichtung und legen eine solche Nutzung nicht nahe.
Sie haben Ihr Buch als Dissertation mit dem Titel Netflix und YouTube als FERNSEHEN 4.0 – Eine medienwissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Televisionizität von On-Demand-Portalen im Frühjahr 2019 abgegeben. Wie schätzen Sie die Entwicklung ein, nun – fast 3 Jahre später?
Eine der spannendsten Neuerungen der vergangenen Jahre liegt für mich in der Einführung der sogenannten „Netflix-Party“. Hierbei handelt es sich um eine technische Möglichkeit, die individuelle Streams von räumlich getrennten Personen synchronisiert, damit sich diese einen Film zeitgleich ansehen und währenddessen darüber miteinander (virtuell) sprechen können. Der Anbieter Disney+ hat dies unter dem Titel „GroupWatch“ sogar fest in seine Nutzeroberfläche integriert. Doch damit nicht genug, Netflix bietet seinen Kund:innen mittlerweile auch einen Shufflemodus an, mit dessen Hilfe man sich von (vermeintlich) zufällig ausgewählten Filmen und Serien überraschen lassen kann – ähnlich, als würde man durch die Fernsehkanäle zappen. Sowohl mit dem Party-Modus als auch mit der Zufallsfunktion werden also weitere charakteristische Eigenschaften eines fernsehhaften, linearen Programmflusses simuliert. Daher kann mein verkürztes Fazit auch weiterhin nur lauten:
Das Fernsehen ist tot; lang lebe das FERNSEHEN!
Herzlichen Dank für das Gespräch.
Christian Richter (Dr. phil.), ist Medienwissenschaftler und Referent für Medienbildung. Er lehrte unter anderem an der Universität Potsdam in den Disziplinen Medienwissenschaft und Erziehungswissenschaften. Seine Forschungsschwerpunkte sind Theorie und Programmgeschichte des Fernsehens; Mechanismen, Strategien und Ästhetik von On-Demand-Angeboten; Populäre Serialität; Medialität von Achterbahnen; Medienbildung und Digitale Bildung.
Die Monographie FERNSEHEN – NETFLIX – YOUTUBE ist beim Transcript Verlag erschienen. Im Zuge der Dissertation Netflix und YouTube als FERNSEHEN 4.0 – Eine medienwissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Televisionizität von On-Demand-Portalen entstand ein Projekt an der Universität Potsdam.
Mehr von Christian Richter können Sie auch ab der nächsten Ausgabe der tv diskurs (Heft 99, voraussichtlich ab Ende Januar 2022 online abrufbar) lesen. In der Rubrik Das Fernseharchiv – aus den (fast) vergessenen Akten der Programmetagen beleuchtet er Fernsehformate aus früheren Zeiten und wie heutzutage damit umgegangen wird. Im ersten Artikel geht es um den Fall Anke Late Night – auf der Suche nach Weiblichkeit.