Jürgen Dünnwald studierte Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften, Völkerkunde und Anglistik sowie Kunst an der FH Köln und ist seit 2012 Prüfer in der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF). Wir haben mit ihm über seinen Weg zum Jugendschutz, die Herausforderungen in der FSF-Programmprüfung und die Frage gesprochen: Hat denn nicht jeder vor etwas anderem Angst?
Sie sind seit 2012 Prüfer in der FSF. Was machen Sie, wenn Sie nicht gerade Filme und Serien in der FSF-Prüfung schauen?
Ursprünglich habe ich Filmkritiken geschrieben und später Drehbücher fürs Fernsehen. Dabei fällt einem aber manchmal die Decke auf den Kopf – ich vermisste den direkten Austausch mit anderen Menschen. Deshalb hab ich angefangen nebenbei als Kunstvermittler zu arbeiten, meist in Ausstellungen zu Fotografie und Film.
Wie landet man denn als Autor und Kunstvermittler im Jugendmedienschutz?
So weit weg ist das gar nicht. Zu den Führungen und Workshops kommen ja auch viele Schulklassen. Da kriegt man mit, in welchem Alter sich Jugendliche bestimmten Themen gegenüber öffnen, worauf sie achten und wie sie das für sich einordnen. Technisch sind das ja alles Digital Natives. Aber welche Bedeutung sie aus Fotos oder anderen Kunstwerken herauslesen und wieweit sie da abstrahieren können, ist eine ganz andere Frage. Das hat – logischerweise – viel mit der Altersstufe zu tun. Natürlich sind die Reifeprozesse – und auch die Bereitschaft, sich auf ästhetische Fragen einzulassen – sehr individuell, aber es gibt auf jeden Fall Entwicklungsschritte, die sich generalisieren lassen.
Können Sie die Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Medienpädagogik und Jugendschutz näher erläutern?
Eigentlich sind es ganz ähnliche Fragen, die für den Jugendschutz gestellt werden, nämlich: Ab wann erkennen und durchschauen Jugendliche bestimmte Formen und Inhalte? Nur dass sich, anders als im Museum, wo es um Motivation und Entdeckerlust geht, hier eine weitere Frage anschließt: Lassen sich diese Inhalte gut verkraften oder stellen sie ein Risiko dar? Und welche Risiken das sein könnten, dazu hat der Gesetzgeber ja einen Kriterienkatalog entwickelt. Das war für mich der eigentliche Lernprozess bei dieser Arbeit, mich auf diese Kriterien zu konzentrieren und alles andere außer Acht zu lassen. Da ist dann eben nicht der Punkt, ob etwas gut oder schlecht gemacht, langweilig oder total albern ist. Die Frage ist vielmehr: Könnte dieses Angebot Kinder in der betreffenden Altersstufe in ihrer Entwicklung übermäßig beeinträchtigen? Mit Betonung auf „übermäßig“. Grundsätzlich sollen Heranwachsende ja mit neuen Erfahrungen konfrontiert werden, auch mit hässlichen Tatsachen oder fragwürdigen Meinungen, und lernen, damit umzugehen, eine eigene Meinung zu entwickeln. Das ist beim Fernsehkonsum ebenso notwendig wie im Museum. Von irgendwoher muss die Medienkompetenz ja kommen. Nur eben zum richtigen Zeitpunkt.
Können Sie Erfahrungen aus Ihrer hauptberuflichen Profession in die Prüfungen einbringen oder lässt man diese Aspekte außen vor?
Nein, wir bringen alle unsere Erfahrungen und unsere Vorgeschichte mit. Wie will man das ablegen? Deswegen wird ja auch für jedes Prüfverfahren so eine bunte Truppe zusammengewürfelt, Frauen und Männer, jung und alt, aus Stuttgart, Leipzig oder Paderborn – eben damit ganz verschiedene Meinungen und Haltungen in die jeweilige Entscheidung mit einfließen. Aber das ist ja nur die eine Seite. Es sind ja nicht einfach Entscheidungen aus dem Bauch heraus, es geht nicht nur um den „gesunden Menschenverstand“. Auch wenn der nie schaden kann. Es gibt klare Vorgaben. Und die hauptamtlichen Prüferinnen und Prüfer, die jedem Ausschuss vorsitzen, achten darauf, dass unsere Diskussionen diese Vorgaben abdecken und nicht in die eine oder andere Richtung ausufern. Diese Prüfer können wir auch fragen, wenn wir Vergleichswerte aus der Spruchpraxis oder Neuerungen in den Formalien noch mal genauer wissen wollen. Und am Ende entscheidet die Mehrheit, ganz demokratisch. Dem Antrag des Fernsehsenders auf die Freigabe eines Films oder eines anderen Programms für eine bestimmte Sendezeit wird dann stattgegeben, oder eben auch nicht.
In der FSF-Programmprüfung sitzen Sie in der Regel mit vier weiteren Prüferinnen oder Prüfern, aus einem Pool von mehr als 100 Personen aus unterschiedlichsten Professionen, zusammen. Wie muss man sich das vorstellen? Wie diskutieren Sie die Wirkungsrisiken von Filmen?
Das stimmt, nicht alle Prüfenden kommen aus der Medienwissenschaft oder Medienpädagogik, das ist bewusst breiter aufgestellt. Professionelle Erfahrung mit Medien kann man auch als Journalist, als Therapeut oder Rechtsanwältin mitbringen. Die treffen hier alle aufeinander, das belebt die Diskussion. Dadurch wird es nie langweilig. Natürlich sind viele auch schon länger dabei und haben eine gewisse Routine in der Einschätzung von Sendungen. Aber trotzdem, es gibt immer wieder Überraschungen, wer sich an was stößt und was als problematisch empfunden wird. Das ist nie völlig absehbar. Und eben auch nicht völlig objektivierbar. Es gibt immer einen Spielraum in der Bewertung. Aber die Argumente müssen schon plausibel sein. Manchmal überdenke ich auch meinen ersten Eindruck und lasse mich von einer anderen Sichtweise, einem anderen Aspekt in der Wirkungsvermutung einer Szene oder eines Details überzeugen. Deswegen heißt es: wir „vermuten“ Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche, mit dem ganzen Instrumentarium, das uns zur Verfügung steht. Das sind die Richtlinien der Prüfordnung, entwicklungspsychologische Grundkenntnisse, die man sich z.B. bei den angebotenen FSF-Fortbildungen aneignet, Argumente des Senders, einer Vorinstanz oder der Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK), berufliche und persönliche Erfahrungswerte und schließlich auch die Überlegungen der anderen Prüferinnen und Prüfer – das spielt alles mit hinein. Dafür ist die Diskussion ja da, Argumente zu sammeln – für und wider – und abzuwägen.
Nehmen wir z.B. das Wirkungsrisiko Angst: Hat denn nicht jeder vor etwas anderem Angst?
Wir können nicht jedem Kind im Land individuell ein Rezept ausstellen, was es lieber nicht im Fernsehen anschauen sollte. Es ist praktikabler, das über die Sender und ihre Sendezeiten zu regeln. Und da lassen sich schon Faktoren identifizieren und auch verallgemeinern, die eine Ängstigung vor allem jüngerer Kinder bewirken könnten, sowohl in Fiktionen als auch in dokumentarischen Formaten: unheimliche Figuren, die nicht einschätzbar sind; Bedrohungssituationen, die über einen längeren Zeitraum anhalten oder am Ende keine Lösung anbieten oder auch vertraute Settings, eine Familienwohnung oder ein Krankenhaus, in denen Kinder plötzlich in Gefahr geraten oder verletzt werden. Da gehen wir schon davon aus, dass das unter 12-Jährige nachhaltig belasten kann. Dagegen stehen dann möglicherweise relativierende Aspekte, ein unrealistischer oder märchenhafter Kontext oder Protagonisten, die nicht als Identifikationsfiguren für Kinder taugen und deswegen jüngere Zuschauer auch nicht in die Geschichte hineinziehen. Das muss man alles in Betracht ziehen und dann entscheiden, was schwerer wiegt.
Wenn Sie als Prüfer versuchen, die Wirkung eines Films auf z.B. 6- oder 12-Jährige einzuschätzen, welche Kinder in dieser Altersklasse haben Sie im Kopf?
Meine 13-jährige Nichte, um die ich mir große Sorgen mache, weil sie nicht die Serien guckt, die ich ihr empfehle. Aber ein Freund hat mich getröstet und gesagt, er sei froh, wenn seine 16-jährige Tochter sich überhaupt für Serien interessiere und nicht nur Datensnacks konsumiere – dieses empathische Erzählen, das Sich-Einlassen auf das Schicksal fremder Menschen über einen längeren Zeitraum hinweg – das sei ihm wichtiger als alle Bedenken. So kann man es auch sehen.
Vielen Dank für Ihre Zeit und das interessante Gespräch!