Boardwalk Empire
Staffeln I-II
Nucky Thomsons Frau hat sich umgebracht. Tagelang hat sie die Leiche ihres gemeinsamen Sohnes wie ein lebendes Baby gepflegt.
James Darmody hat im ersten Weltkrieg zu viele Deutsche gekillt und zieht ein Bein nach. Er und Richard Harrow kommen direkt von den automatisierten Schlachtfeldern des ersten Weltkrieges. Wie viele Gangster haben die beiden nur ein Handwerk gelernt – und töten in der Heimat einfach weiter. Richard trägt eine Blechmaske, die das riesige Loch in seinem Gesicht verbirgt, das eine Schrapnellkugel gerissen hat. „Ich habe erkannt, dass Fiktion darauf beruht, dass zwischen Menschen irgendeine Verbindung besteht – aber das ist nicht so“, sagt er und unterstreicht den Sinn dieser Prosa jederzeit als Scharfschütze.
„Die Melasse ist nichts für meine Füllungen“, sagt Agent Nelson zu seiner Gemahlin als sie ihm Kekse anbietet. Er trägt seine Backstorywound auf dem Rücken und erneuert sie regelmäßig mit der Peitsche, wenn seine Gedanken von Gottes Weg abweichen. Er ist der eigentliche Antagonist, ein bigotter und zwangsneurotischer Mörder, ein ganz normaler religiöser Fanatiker.
Die schlimmste Backstorywound hat Margaret Schroeder (ab Staffel 3 Thomson): Sie ist eine Frau. Qua Geschlecht jedem Mann ausgeliefert, der die Definitionsmacht über die Welt besitzt. Sklavin eines Paschas von Gottes Gnaden, der belohnt oder bestraft wie es ihm passt. Seltsam, dass es heute noch so federleicht fällt, sich mit ihr zu identifizieren …
Es fällt schwer, in Steve Buscemi den Pharao einer korrupten Dynastie zu sehen. Er ist als Besetzung zu lange das ideale Nesthäkchen jeder Männergruppe gewesen.
Ein Kerl so hart wie ein Marshmallow. Von Befindlichkeiten gequält, könnte er auch jeden Satz beginnen mit: „Meine Therapeutin hat gesagt …“. Da es aber leicht fällt, sich mit einem so hilfebedürftigen Menschen zu identifizieren, und Macht interessanter als Ohnmacht ist, gelingt es, die unglaublichen gesellschaftlichen Zustände als normale Seriengegenwart zu etablieren und mit Nucky zu fiebern, er möge die Kontrolle über sein Reich behalten.
Von allen neuen Serien ist Boardwalk Empire die Sperrigste. Die Crew der Serie The Sopranos zeigt ein Museum von Amerika, das sauberer ist als meine Wohnung. Auf den Brettern, die Atlantic City bedeuten, gibt es nicht mal Hundescheiße.
Wie ein Stück Torte wird die Welt präsentiert. Nur manchmal erlaubt die Regie dem Blut der Ermordeten ein Fade to red des Zuckerbäckerbildes. Das Set ist eine permanente, teure Antiquität, prächtig wie ein Bollywoodfilm. Schauspieler in historischer Kleidung bevölkern einen glänzenden Planeten. Die Studios müssen die Antiquitätenläden der Umgebung leer gesogen haben. Die Vergangenheitsform macht es leicht, dabei zuzusehen wie der Besitz – die Beute der Macht – zelebriert wird: Frauen, Alkohol und Luxus, Technik, Waffen, Schmuck. Fast störend wirken die altertümlichen Nuckelpinnen dabei. So etwas fährt ein echter Mann nicht. Noch die letzte historische Karre eines Veteranenvereins knattert durch den Set und unterstreicht damit den historischen Klangteppich der Serie. Nur im surrealistischen Vorspann gibt es Popmusik. Der gesamte Rest scheint zeitgenössisch und zitiert bisweilen live historische Noten, den kratzigen Hauch von Schellackplatten, die mechanischen Klänge eines Orchestrions mit Münzeinwurf. Nachrichten aus einer Zeit, in der Musik noch Luxus war und kein Geräuschsmog. Diese fast dogmatischen Beschränkung macht die Sache sperrig. Sperrig wie das Auftreten historischer Protagonisten wie Al Capone, Meyer Lansky und Lucky Luciano. Dieses Kehlmanntum nimmt einiges an Spannung, da das Leben dieser Gangster bekannt ist und sie somit unverwundbar sind.
Und doch bietet Boardwalk Empire serientypisch Rührung und Lebenshilfe an. In der konsequenten Ausarbeitung, die nur die lange Fassung des modernen Serienformates erlaubt, bietet sie einen quälenden Subtext, scheint sie permanent zu schreien: Die Vergangenheit ist eine Bürde! Die Vergangenheit ist unsere verdammte private Backstorywound und nichts wird sie jemals heilen, wenn wir weiterhin zulassen, dass die Gegenwart, die während eines Wimpernschlages zur Vergangenheit wird, täglich von kleinlichen und korrupten Protagonisten gestaltet wird. Denn die Vergangenheit von Morgen entsteht jetzt – in der Gegenwart. Und wie in Nuckys Welt, die vom Beginn der Allmacht des Geldes geprägt war, verharrt auch unsere Gegenwart in Zuständen, die unerträglich sind und in der Zukunft unglaublich erscheinen mögen. Es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass sich daran etwas ändern könnte.
„Wir alle müssen jeder für sich entscheiden, mit wie viel Sünde wir leben können“, sagt Nucky zu seiner Frau.
Hoffentlich wird in 90 Jahren noch jemand eine Serie schreiben, die von den unglaublichen Zuständen unserer Gegenwart handelt. Wer wird darin Nucky sein und wie soll die Serie heißen? Vielleicht: „Schnäppchenjäger des verlorenen Schatzes“, „Der Gammelfleischpate“ oder lieber „Weltreich der Blödmaschinen“?
Ab dem 05. Dezember 2013 zeigt Sky Atlantic HD jeden Donnerstag um 21 Uhr die brandneuen Episoden der vierten Staffel der Mafiaserie Boardwalk Empire. Und pünktlich zum Staffelstart gibt es Hintergrundwissen und die FSF-Freigabe in unserem Blog – morgen in Neues aus der Programmprüfung!
Hervorragend!
Bitte mehr davon!!!
Vielen Dank im Voraus.