Kleine moralische Kompasse

Watching this show does a number on your moral calculus”, schrieb der Kritiker Alan Sepinwall zur letzten Staffel Game of Thrones. Was so viel heißt, wie, dass die Show die eigenen Moralvorstellungen untergräbt, Schindluder damit treibt. Sepinwall fügte hinzu, dass Game of Thrones das noch mehr tun würde als ihr düsterer HBO-Vorgänger The Wire. Und nicht nur über diese Serien lässt sich das sagen. Das Untergraben der Moralvorstellungen der Zuschauer ist eines der herausstechendsten Merkmale vieler TV-Shows des goldenen Zeitalters der sogenannten Qualitätsserien. Antihelden tun Dinge, die wir unter anderen Umständen verurteilen würden, aber die durch Kontext und das Hervorrufen von Sympathien plötzlich akzeptabel werden. Auf diese Weise handeln die Serien vor allem davon, dass die Welt an keiner Stelle schwarz oder weiß ist, auch dort nicht, wo man es am meisten vermutet. Oft gehen sie noch darüber hinaus und kultivieren eine Faszination am Bösen. Wir fühlen mit Kleinkriminellen; wir verstehen, wieso jemand zum Spion wird; wir hoffen, dass der Mörder nicht geschnappt wird, sehen ihm bisweilen sogar fasziniert bei seinem Treiben zu und haben Mitleid mit Terroristen. Und immer wieder bringen diese Serien den Zuschauer an den Punkt, an dem er sich fragen muss, wie weit er es mit den Rechtfertigungen treiben will.

© FSF
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Es gibt jedoch ein Element in vielen dieser Serien, das einen Gegenpol darstellt zu dieser Ambivalenz, diesem Verwischen der Grenze zwischen gut und böse, zwischen akzeptabel und inakzeptabel: die Figuren von Kindern und Jugendlichen. Ihre Handlungen stehen häufig im krassen Gegensatz zu den biegsamen Moralvorstellungen der Erwachsenen und bilden somit auch für den Zuschauer einen wichtigen Kontrapunkt, dessen Wertevorstellungen durch das Sympathisieren mit den Serienhelden immer wieder infrage gestellt werden.

Brodys Tochter in Homeland zerbricht fast an ihren Schuldgefühlen, weil sie und ihr Freund eine Frau überfahren haben und dann geflüchtet sind. Sie will sich der Polizei stellen und ihre Strafe entgegennehmen, wird jedoch von allen Erwachsenen um sie herum wegen der politischen Karriere ihres Vaters daran gehindert. Wenn Cassidy Mackey in The Shield davon erfährt, dass ihr Vater ein korrupter Polizist und potenzieller Mörder ist, marschiert sie schnurstracks zum nächsten Beamten und will Anzeige gegen ihn erstatten, nur um von dem Mann nicht ernst genommen zu werden. Die Tochter der beiden sowjetischen Spione in The Americans ist weit davon entfernt, die wahre Identität ihrer Eltern einfach so hinzunehmen, und kann diesen Umstand nicht mit ihren eigenen Werten in Einklang bringen. All diese Figuren haben relativ klare Vorstellungen davon, was richtig und was falsch ist.

Die erzählerische Funktion der Figuren ist es meines Erachtens, sowohl ihre Eltern als auch den Zuschauer moralisch gewissermaßen wieder einzuordnen, eine Perspektive zu geben, die zu sehr einfachen Grundsätzen zurückgeht. Nicht lügen, niemandem wehtun etc. Und während wir Erwachsenen mit all unserem Verständnis für Komplexität Don Draper (Mad Men) für sein „kompliziertes“ Liebesleben bewundern; hoffen, dass Walter White (Breaking Bad) es schafft; bei den coolen Sprüchen eines Vic Mackey (The Shield) grinsen und sogar ein gewisses Verständnis für Brody (Homeland) aufbringen, setzen die Figuren der Kinder und Jugendlichen einen deutlichen moralischen Kontrapunkt, der einfach sagt: Das ist alles verkehrt. Oft sind diese Figuren dabei mutiger als die Erwachsenen um sie herum.

Über Katja Dallmann

Katja Dallmann hat ein Übersetzer-Diplom und einen Bachelor in Publizistik- und Kommunikationswissenschaft abgeschlossen. Sie ist freie Übersetzerin und Autorin, hat als Onlineredakteurin gearbeitet und verschiedentlich in Print und Online publiziert. Katja ist leidenschaftlicher Serienfan und bloggt sonst unter Serielle Schnittstelle.