Die Utopie einer neuen (Fernseh-) Welt

15 Menschen essen, schlafen, wohnen gemeinsam auf einem abgesteckten Gelände und werden dabei rund um die Uhr von Fernsehkameras gefilmt. In regelmäßigen Abständen wird ein Kandidat herausgewählt, ein neuer kommt hinzu. Anfang des Jahres startete in den Niederlanden das Reality-Format Utopia.

Die Anordnung klingt zunächst so neu nicht. Doch was /Utopia besonders macht, sind zwei Dinge: Erstens werden die Kandidaten in Ruhe gelassen. Heißt, sie sollen „richtig leben“ und werden nicht durch Spiele, Aktionen oder Interviews in einem ständigen künstlich-medialen Zustand gehalten. Angeblich gibt es keinerlei Eingriffe vonseiten der Produktion, denn die Kandidaten sollen vor allem zusammenarbeiten und nicht, wie noch beim Reality-Urformat Big Brother, gegeneinander. Und zweitens ist die Länge des Formats ungewöhnlich: Utopia ist auf die Dauer von einem ganzen Jahr angelegt, deckungsgleich mit dem Kalenderjahr 2014: Am 31. Dezember letzten Jahres bezogen die Freiwilligen eine Wellblechhalle auf einem ehemaligen Militärgelände, eine halbe Stunde Autofahrt von Amsterdam entfernt. Sie bekamen zwei Kühe und ein paar Hühner dazu, außerdem 10.000 Euro in bar. Mehr nicht. Kümmern mussten sie sich zunächst also um das Allernötigste (Nahrung, Toilette, Dusche), konnten dann aber bald über weit luxuriösere Dinge nachdenken (Spülmaschine, Tabak). Und neu ist auch: Den Einwohnern ist Kontakt zur Außenwelt erlaubt, dazu haben sie ein Telefon und sogar Internetzugang. Auch dürfen Menschen von außerhalb auf das Gelände kommen. Schließlich müssen sie sich in diesem Jahr auch selbst finanzieren – z. B. veranstalten sie auf ihrem Gelände einen Markt und verkaufen selbst angebautes Gemüse. Oder es wird eine Busladung Rentner zum nachmittäglichen Bingospiel eingeladen.

Reality-TV als Fernsehrevolution?

Die Kandidatengruppe soll im Laufe des Jahres nichts weniger als „eine eigene Gesellschaftsform“ aufbauen, so der niederländische Erfinder des Formats John de Mol. Wer so lange ohne von außen auferlegte Regeln auf engstem Raum zusammenlebt, wird zwangsläufig darüber nachdenken, wie das Zusammenleben funktionieren kann. Erst am Ende des Jahres wird sich endgültig sagen lassen können, ob Utopia tatsächlich als soziales Experiment, das Rückschlüsse auf menschliches Sozialverhalten zulässt, bezeichnet werden kann. Oder ob die Sendung lediglich auf dem Niveau vom Verhandlungsalltag einer Wohngemeinschaft, in der ständig über Putzdienste und Privatsphäre gestritten wird, verlief. Utopia wird jedenfalls von de Mols Firma Talpa weltweit ganz selbstbewusst als soziales Experiment und als Fernsehrevolution vermarktet.
In den Niederlanden löste Utopia zu Beginn tatsächlich eine Diskussion in Feuilleton und Wissenschaft aus – ganz nach de Mols Kalkül, denn dieser Buzz, diese Aufregung um ein Format ist beste und kostenlose PR. Und die Sendung sorgt weiterhin für Gesprächsstoff, allerdings wird sie weit nüchterner verhandelt als vor gut 15 Jahren der Vorläufer Big Brother. Und es geht heute auch weniger um fernsehmoralische Fragen wie: „Darf man so etwas senden?“, sondern mehr um die Infragestellung der sozialen Relevanz des Gezeigten. Und so holte zu Beginn der Ausstrahlung der kleine Sender SBS 6 auch fantastische Quoten mit Utopia, die sich jetzt stabil im oberen Mittelfeld eingependelt haben (durchschnittlich eine Mio. Zuschauer pro Abend).

Streitigkeiten, Sex, Skandale

Bei den Zuschauern hat sich allerdings längst, was die „Entstehung einer Gesellschaft“ betrifft, Ernüchterung eingestellt. Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen eher die Kandidatenbeziehungen auf Mikroebene: Streitigkeiten, Sex, Skandale … Deswegen werden Utopia und Reality-TV geguckt. Das weiß auch der finanzstarke Fernsehunternehmer John de Mol, der genau deswegen und nicht wegen eines größeren sozialen Interesses dieses Format entwickelt hat. Utopia wird – wie sämtliche verwandte Produktionen – von einer eher bildungsfernen und fernsehaffinen Schicht konsumiert.
Zum Konzept Utopia gehört auch eine durchdachte Social-Media-Strategie (die aktivsten User dürfen über den monatlichen Rauswurf bestimmen) – auch hier ist festzustellen, dass sich die Interessen bei den twitternden Zuschauern eher auf: „Wer küsst wen?“ statt: „Wer beherrscht wen?“ fokussieren. Doch natürlich stellt sich auch die Frage, ob nicht eben diese ständigen zwischenmenschlichen Auseinandersetzungen (Liebeleien, Alltagsstreitigkeiten, Fehden) Teil der Entwicklung von Gesellschaft darstellen. Insofern lässt sich Utopia als geniale Idee bezeichnen: In erster Linie einfach konzipiert, schnell zu erfassen und mit den zu erwartenden Zuschauer ziehenden Eskapaden – aber angeordnet als „Experiment für eine bessere Welt“.
Kein Zufall, dass gerade John de Mol das Reality-TV nun mit Utopia auf eine neue Stufe holt: So dient doch sein Format Big Brother (damals noch Endemol), das im Jahr 2000 in Deutschland anlief, als Prototyp des Reality-TV (Mikos 2010) (fast parallel startete damals in manchen Ländern das Reality-Franchise Survivor, das ebenfalls als prototypisch gilt, in Deutschland jedoch nie wirklich angenommen wurde). Damals entfachte Big Brother eine breite Diskussion über Moral und Anstand im Fernsehen. So sprach Kurt Beck, seinerzeit Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz und Vorsitzender der Rundfunkkommission der Länder, in der tv diskurs von einer „neue[n] Negativqualität in der Fernsehunterhaltung“ (Beck 2000). Fernsehintellektuelle wie Lothar Mikos erwiderten folgerichtig, dass die  aufschreienden Politiker genau die gewesen waren, die zuvor das duale Rundfunksystem gewollt hatten. Somit müssten sie nun akzeptieren, dass deren Programmgestaltung Zuschauermehrung mit allen – natürlich legalen – Mitteln zum Ziel habe (Mikos 2000). Das alles war Teil der PR-Strategie von de Mol.

Internationaler Formathandel als Teil des Konzepts

John de Mols Erfolg liegt auch darin begründet, dass er es bestens versteht, verschiedene TV-Genres zu hybridisieren (bei Big Brother verknüpfte er die damals beliebten Formate Soap, Doku, Gameshow) und in einem weiteren Schritt auch  noch im Sinne eines aktuellen gesellschaftlichen Diskurses umzusetzen (damals Überwachung, Privatsphäre).
Dies ist ihm nun wieder optimal gelungen: Utopia verknüpft Big Brother und Dschungelcamp in einer Zeit, in der sich viele Menschen nach gesellschaftlichen Umbrüchen sehnen und bestehende gesellschaftspolitische Konzepte mehr und mehr in Frage gestellt werden.
Und auch auf eine weitere Sache versteht sich de Mol: die internationale Vermarktung. Big Brother war von Beginn an als weltweit verwertbares Produkt konzipiert, die damals stattfindende Digitalisierung der TV-Märkte ließ den Bedarf an Inhalten stark ansteigen. Bis heute hält dieses Bedürfnis an. Utopia wird gerade aggressiv beworben, Lizenznehmer aus mindestens drei Ländern haben bereits zugeschlagen (Deutschland, USA, Türkei). Es ist davon auszugehen, dass viele weitere folgen werden. Damals wie heute fungieren die Niederlande dabei als Labor, John de Mol probiert sich auf seinem kleinen und offenen Heimatmarkt aus. Wie der Mediendienst dwdl.de kürzlich zu berichten wusste, ist das Durchschleusen internationaler Lizenznehmer Teil des Versuchsaufbaus auf dem niederländischen Utopia-Gelände: So werden die finanzstarken Gäste in einen kleinen Vorführraum gebeten, in dem sie zunächst ein paar Filme zum Format vorgeführt bekommen. Schließlich hebt sich ein Vorhang und die Gäste erhalten durch eine Glasscheibe Einblick in die Liveregie, von der aus die über 100 Kameras und gut 60 Mikrofone auf dem Gelände gesteuert werden (Zarges 2014). Hier wird nicht nur für den allabendlichen Zusammenschnitt gearbeitet, hier wird vor allem auch Livefernsehen für das Internet gemacht: Die Kandidaten sind im Netz 24/7 zu sehen.
Es ist zu vermuten, dass sich die niederländische Version alleine finanziell gar nicht trägt. Aber wenn de Mol ein Konzept erarbeitet, dann muss es in der ganzen Welt funktionieren. Das war bei Big Brother so, das ist zurzeit bei The Voice der Fall und das wird sich mit hoher Wahrscheinlichkeit auch bei Utopia bewahrheiten. Ab August läuft Utopia auch in den USA an. Als der verantwortliche Abteilungsleiter beim Network Fox, Simon Andreae, von dem neuen Format erfuhr, ist er nur Minuten später und ohne weiteres Gepäck nach Amsterdam geflogen: „Uns war klar, dass es einen harten Wettkampf um das Format geben wird. Wenn ich es nicht bekommen hätte, hätte ich mir das nie verziehen!“ (Villarreal 2014)

Eventfernsehen als neue Strategie?

John de Mol kommt mit seinem Format Utopia auch deshalb gerade richtig, weil das lineare Fernsehen gerade viel Stoff zur sogenannten „Eventisierung“ braucht: Auf den vergangenen Upfronts in New York, der wichtigsten Veranstaltung von Fernsehmachern und Werbetreibenden, sprach erst ein hoher NBC-Chef von den Bemühungen seines Senders, alles zu „eventisieren“, dann ein Fox-Vertreter darüber, dass sie zurzeit ihre Unterhaltungssparte „eventisieren“. Heißt: Man liefert den Zuschauern Gründe, Fernsehen zum Zeitpunkt der Erstausstrahlung zu schauen, dazu schafft man Events, also Fernsehen, das live und zum Zeitpunkt der Erstausstrahlung gesehen werden muss und eben nicht erst später auf DVD oder als Video-on-Demand. Schon immer eigneten sich Sportereignisse bestens dazu – wer schaut schon ein aufgezeichnetes Fußballspiel oder einen Boxkampf von vor einer Woche? Liveshows haben in den USA keine große Tradition – auch das rückt nun immer mehr in den Fokus der Überlegungen. Und eben: Reality-TV, über das am nächsten Morgen gesprochen wird. Utopia eignet sich gut dazu, die Zuschauer zum Einschalten der täglichen Zusammenschnitte zu motivieren – niemand würde eine ganze Staffel „nachschauen“. So ein Eventprogramm soll den schon immer wieder totgesagten Watercooler-Effekt befördern: Am nächsten Tag ist das Programm Thema an sämtlichen Wasserspendern (oder anderen  Orten, an denen Menschen zum kurzen Plausch aufeinandertreffen).
In Deutschland soll Utopia vielleicht schon ab Herbst bei SAT.1 zu sehen sein. Welche Entwicklung das Format hier nehmen wird, hängt stark von der Art der Inszenierung ab. Reality-Formate haben hierzulande alle Möglichkeiten: Sie können voll einschlagen (Ich bin ein Star – Holt mich hier raus!), sie können aber auch einen Totalabsturz erleben (Promi Big Brother). Interessant wird auch sein, ob SAT.1 den „Look“ der niederländischen Version beibehalten wird: Die hyperrealistische Ästhetik mit unaufgeräumtem Gelände, wenig bis gar nicht geschminkten Kandidaten und einer nicht inszeniert  heruntergekommenen Behausung wird den deutschen Programmmachern sicherlich zu gewagt sein. Es ist zu hoffen, dass man bei SAT.1 Mut hat und die Alleinstellungsmerkmale beibehalten wird. Nur so lässt sich unterhaltendes und vielleicht sogar relevantes Eventfernsehen machen.

Dieser Beitrag ist in der aktuellen tv diskurs 69/2014erschienen.

Literatur:
Beck, K.: Position des rheinlandpfälzischen Ministerpräsidenten Kurt Beck zur Diskussion um Big Brother und vergleichbare Sendeformate. In: tv diskurs, Ausgabe 13, 3/2000, S. 42 – 43
Mikos, L.: Aufregung in Medialand. Oder: Wie Big Brother Politik, Medienaufsicht und Öffentlichkeit in Panik versetzte. In: tv diskurs, Ausgabe 13, 3/2000, S. 36 – 41
Mikos, L.: Ein Prototyp wird zehn Jahre alt. Big Brother hat die Fernsehlandschaft verändert. In: tv diskurs, Ausgabe 52, 2/2010, S. 72 – 77
Villarreal, Y.: Fox’s Simon Andreae has ‚super ambitious‘ plan to build ‚Utopia‘. 24.01.2014.
Zarges, T.: Setbesuch bei „Utopia“. John de Mols Labor für die TV-Welt von morgen. 03.05.2014.

Über Hendrik Efert

Hendrik Efert ist freier Medien- und Kulturjournalist mit den Schwerpunkten Popkultur, Film und Fernsehen. Er arbeitet u.a. für das Deutschlandradio, den WDR sowie einige Printmagazine und schreibt manchmal für die tv diskurs.