In 50 Jahren zu der Plattform für den internationalen Nachwuchsfilm gereift

Tage voller Emotionen – Rückblick auf das 50. Sehsüchte-Filmfestival

Filme für Groß und Klein, Jung und Alt, zum Lachen und zum Weinen – fünf Tage Emotionen in Gestalt von Filmen jeglicher Gattungen und Genres wurden vom 21. bis zum 25. Juli in Potsdam, u.a. in der Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF, aber auch an anderen Potsdamer Locations, und digital aufgeführt und beeindruckten das zusehende Publikum hoffentlich genauso wie mich.

Das diesjährige Internationale Studierendenfilmfestival Sehsüchte wurde aufgrund der Coronapandemie erneut als Hybridfestival organisiert. Aus über eintausend Filmeinreichungen wurden 107 ausgewählt und in verschiedene Sektionen und Filmblöcke geteilt. Für das Festival im Juli arbeiteten ca. 60 Studierende der Filmuniversität KONRAD WOLF an dem Erfolg des Internationalen Filmfestivals und es ist ihnen erneut gelungen, das Publikum in seinen Bann zu ziehen.

YouTube-Kanal sehsüchte: AFTERMOVIE | 2021

Seit nunmehr 50 Jahren schon wird das Filmfestival, wenngleich nicht immer als ein solch großes Event, von den Studierenden der Filmhochschule veranstaltet. Begonnen hat alles 1972 mit den FDJ-Studententagen der HFF. Während anfangs nur eigene Filme gezeigt wurden, kamen im Laufe der Jahre auch Inhalte aus dem freundschaftlich verbundenen Ausland dazu – und es entwickelte sich zu dem größten studentischen Filmfest der Ostblockstaaten. Das Studierendenfestival wurde 1995 auf Sehsüchte „getauft“. Mittlerweile hat es sich zu einer Plattform für den internationalen Nachwuchsfilm gemausert. Wer sich mehr für die Geschichte von Sehsüchte interessiert, auf der Website der Filmhochschule wurde eine sehenswerte digitale Ausstellung realisiert.

 


#ignite50th sehsüchte | Trailer 2021

Von der Eiszeit bis in die Zukunft

Einige der ausgewählten Filme verhandeln in ihren Stoffen auch Ereignisse, die weit vor 1972 liegen. So konnten sich Kinder und Erwachsene in dem animierten Kurzfilm TOC (Aitor Herrero, 2020) über die schwierig zu übermittelnde Liebesbekundung des ordnungsliebenden Steinzeitmenschen Toc an die emanzipierte Angebetete amüsieren. Nach einigen Gefühlswirrungen folgt ein witziges Happy End.

Die DEFA-Filme der Retrospektive fallen ungefähr in die Entstehungszeit der FDJ-Studententage. Hier wurde der Zuschauende in die Filmwelt der ehemaligen DDR gesogen. In den kurzen und längeren Dokumentarfilmen wurden bei so manch einem Erinnerungen an die verloren gegangene Welt wach – für alle anderen wurde ein spannendes Stück Zeitgeschichte in dokumentarischer Form präsentiert. Besonders bewegt hat mich der Dokumentarfilm Wer fürchtet sich vorm schwarzen Mann (Helke Misselwitz, 1982). Porträtiert wird hier die Lebensrealität einer Berliner Familie und ihrer Mitarbeitenden im familiär geführten Kohlenhandel.

Aber auch die Zeit dazwischen wurde zum Thema: in dem kurzen Spielfilm El Cairo (Martín Montellano, 2020) geht es um die verbliebenen Anhänger der mexikanischen Revolution, die 1926 von amerikanischen Truppen erbarmungslos verfolgt wurden.

Bei den meisten Stoffen handelt es sich jedoch um Gegenwartskunst. Wie sich die studierenden Filmemachenden die Welt von morgen vorstellen, diese Gedanken in filmische Formen gegossen fanden ebenfalls Eingang in einige fiktionale Stoffe. Mit einer spritzigen und innovativen Filmidee glänzt der Spielfilm Funkschatten (Caren Wuhrer, 2020). Hier verbinden sich Themen des gemeinschaftlichen Zusammenlebens, der Fortschrittsangst und der Sorge um die Gesundheit mit den existenziellen Alltagsproblemen auf humorige Art und Weise zu einer Gesellschaftskritik. Auch in I AM (Jerry Hoffmann, 2021) geht es um die Zukunft und um das Zusammenleben mit Androiden bzw. wie ähnlich sie den Menschen werden können – spannend in Szene gesetzt.

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FUNKSCHATTEN | SILENT ZONE | Short Film | Trailer from Maxi Willmann on Vimeo.

Diskurse

Die aufgegriffenen zentralen Sujets der auf dem Festival präsentierten Filme orientieren sich an aktuellen Problemen der Gemeinschaft. Es geht viel um menschliche Beziehungen zueinander, um Zuversicht, aber auch um Lebensängste. Weggeschaut haben die jungen Filmemachenden nicht vor den unangenehmen und brennendsten Diskursen der Zeit, die sich zum einen in Flucht, Migration und Diskriminierung subsummieren lassen und zum anderen in Bereichen wie Wohnungslosigkeit, Massenüberwachung, sozialer Kälte und Religion finden. Zum Beispiel in den dokumentarischen Bildergeschichten Son of the Streets (Gewinner: Bester Dokumentarfilm kurz; Mohammed Almughanni, 2020), A Letter from Raqqa (Arash Asadi, 2020), Seepferdchen (Nele Dehnenkamp, 2020), Deutschland ist ein Trampolin (Marc Sebastian Eils, 2021), Mein Vietnam (Gewinner: Bester Dokumentarfilm; Hien Mai, Tim Ellrich, 2020) und einigen weiteren anzusehen.

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A letter from Raqqa_Trailer from pinkshadowfilms on Vimeo.

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Mein Vietnam – Trailer from Tim Ellrich on Vimeo.

Während zum Beispiel der Kurzfilm Kosher (Gideon Imagor, 2021) den erniedrigenden Alltag einer jungen orthodoxen Jüdin sehr eindringlich wiedergibt, wurde in RAmen (Rubén Seca, 2019) der Umgang mit Religionen ein wenig „aufs Korn genommen“. Selbst die Coronapandemie wird thematisch in Nicht zu nah (Luis Sütter, 2021) satirisch und leicht kontrovers, aber vor allem mit einem Augenzwinkern präsentiert. Wie stark man sich dem Sog der, wenn auch etwas ungeliebten, Familie nicht entziehen kann, bildet der fiktionale Kurzfilm Das Leben ist schön und sonnig (Christian Zipfel, 2020) meisterhaft ab. Vom Studienalltag aus dem normalen Leben gerissen, muss erst die lebenswichtige Dissertation auf Mallorca „Urlaub machen“, bis Protagonist Tobias sich der Schönheit des alltäglichen Lebens ergibt.

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RAmén – Trailer from RAmén on Vimeo.

Ängste

Insgesamt hatte ich das Gefühl, dass die schweren Themen in den fiktionalen und dokumentarischen Filmstoffen überwiegen. Neben den oben erwähnten Zukunftsängsten empfand ich die beiden Filme Auster (Antonia Uhl, 2021) und Bandsalat (Gewinner: Bester Jugendfilm; Tanja Hurrle, 2020) thematisch und ins Filmische sehr gelungen umgesetzt. Darin geht es jeweils um das Zusammenleben mit einer an Depression erkrankten Mutter und ihrer jungen Tochter. Beide Mädchen (19 und 25 Jahre alt) versuchen, in ihrem jungen Alter plötzlich zwei Leben zu managen und unbedingt den Schein der Normalität nach außen zu wahren. Natürlich wirken die Krankheiten der Mütter jeweils sehr einschneidend in das Leben der heranwachsenden und zukunftsorientierten Töchter, die sich jeweils aus Scham sozial isolieren. Bedrückendes Thema.

 

Verlust

Eine etwas traurige, aber auch zuversichtliche Geschichte von Liebe, Verlust und Erwartungen in der Familie wird im Film Männerabend (Ares Ceylan, 2020) erzählt. Ein Vater trauert um seinen kürzlich verstorbenen Sohn, als er den ehemaligen Mitbewohner seines Sohns bei einem Spontanbesuch nötigt, den Abend mit ihm zu verbringen – um mehr über seinen Sohn zu erfahren, der ihm merklich fremd blieb. Letztlich lernt der Vater aber durch diesen Abend sich selbst kennen. Herrlich unkonventionell, kurz und treffend inszeniert. Es braucht nicht immer 90 Minuten für ein bedeutungsvolles Sujet.

 

Future: Kinder- und Jugendfilme

Hier wurden ebenfalls keine diskursiven Motive ausgeklammert. Dargestellt wurden u.a. freundschaftliche und geschwisterliche Beziehungen, Essstörungen, aber auch Klima- und Deportationspolitik und vieles mehr.

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Migrants | Trailer | 2020 from PÔLE 3D on Vimeo.

So wird beispielsweise in Karla & Nordahl (Elisabeth Aspelin, 2019) das Leben der beiden unterschiedlichen Geschwister abgebildet. Karla bringt nicht nur Zuneigung zum Vorschein, da das Leben mit dem etwas beeinträchtigten älteren Bruder Nordahl nicht immer ganz einfach für sie ist. Eine wichtige Orientierung für Kinder in ähnlichen Familienverhältnissen und für alle anderen, die sich dem Thema Inklusion nähern möchten.

Die jeweiligen Kinder- und Jugendjurys haben sich aber doch für andere Gewinner entschieden. Mehr dazu bietet der in dieser Woche veröffentlichte Blogbeitrag, in dem Eva Lütticke die beiden Koordinatorinnen des Spezialprogramms, Luisa Müller und Julia Schellenberg, zu ihrer Arbeit und der Sektion Future befragt.

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So wurden viele Themen und viele Filmarten abgedeckt – es dürfte für jeden etwas dabei gewesen sein. Meine Gedanken und Empfindungen standen für fünf Tage nicht still – ich hoffe, es ging vielen Zuschauerinnen und Zuschauern genauso: befruchtend und über den eigenen Tellerrand hinausblickend, bewegend. Und während ich mich gedanklich noch kurz zurückbesinne, geht die Organisation für die nachkommende Studierendengeneration der Babelsberger Filmhochschule schon wieder in die nächste Runde.

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Alle Bilder: Sehsüchte 2021 © Frederik Lorenz

Festivalbesuche

Ob das Internationale Studierendenfilmfestival Sehsüchte in 2022 erneut als Hybridfestival organisiert wird, steht noch in den Sternen. Die digitalen Abrufzahlen können sich jedenfalls sehen lassen, so wurden die Filme auf der Webseite im Festivalzeitraum 2020 online ca. 20.000 Mal abgerufen und in 2021 ca. 24.000 Mal. Vor Ort waren dieses Jahr aufgrund der Pandemie „nur“ 1.600 Besucher (2020: 800 – umfassende Corona-Hygieneregeln), während es in den Jahren zuvor (keine Möglichkeit gab, Filme online anzusehen) ca. 5.000 Festivalbesucher jährlich gab.

Auf die Frage, ob denn künftig der digitale Abruf zusätzlich angeboten wird, um die Publikumszahlen zu erhöhen, antwortet mir Conrad Mildner, zuständig für die Gesamtkoordination des diesjährigen Sehsüchte-Festivals, dass dies natürlich einen erheblichen Mehraufwand für das Festivalteam bedeutet und Sehsüchte als lokales Filmfestival seinen Fokus auf Präsentation des Filmnachwuchses legt – und diesem Vernetzungsmöglichkeiten bietet. Dieses Jahr konnten schon wieder sehr viel mehr Filmteams auf dem Festival den Fragen des Publikums Rede und Antwort stehen und die Impressionen der Zuschauenden aufsaugen. Im Juli 2021 waren sogar mehr Filmemachende als in den Vorjahren in Babelsberg – „das verdeutlicht, dass gerade die jungen Filmemacherinnen und Filmemacher dafür brennen, ihre Filme wieder vor Ort präsentieren zu können“, so Conrad Mildner.

In diesem Sinne freut sich die FSF als Unterstützerin des Internationalen Studierendenfilmfestivals Sehsüchte ungemein auf die 51. Ausgabe in 2022.

 

Weitere Trailer aus dem Sehsüchte 2021-Programm bei Vimeo:

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Über Sandra Marquardt

Sandra Marquardt hat 2010 ihr Magisterstudium in Filmwissenschaft und Publizistik- und Kommunikationswissenschaft an der FU Berlin abgeschlossen. Seit 2011 arbeitet sie als Onlineredakteurin bei der FSF. Dort betreut sie u.a. zum einen den Onlineauftritt der FSF-Website, ist zum anderen für den fsf blog inklusive der Bildredaktion verantwortlich und festes Teammitglied der Newsletterredaktion. Als Praktikumsbeauftragte ist ihr die Betreuung der Praktikantinnen und Praktikanten eine Herzensangelegenheit.