Sommerforum 2015 über die hohe Kunst des Abschaltens

Nur nach Essen, Trinken und Schlafen lechzen Menschen mehr. Gleich auf Rang vier der Gelüste-Liste rangiert die Mediennutzung – weit vor „klassischen Süchten“ wie Tabak oder Alkohol, von Sex ganz zu schweigen. Mit diesen Studienergebnissen des Psychologen Wilhelm Hofmann unterstrich Anka Heinze, stellvertretende Direktorin der Medienanstalt Berlin-Brandenburg (mabb), die Relevanz des Themas Aus dem Gleichgewicht – Wenn Mediennutzung stresst. Das Sommerforum Medienkompetenz von mabb und Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen (FSF) diskutierte den selbstbestimmten Umgang mit einer stets verfügbaren Überdosis. Hauptziel ist für FSF-Geschäftsführer Professor Joachim von Gottberg „ein souveräner Umgang mit dem Medienangebot“. Dazu gehöre, „dass die Nutzer es auch einfach mal leid sind und ausschalten“.

 

Dr. Friedrich Krotz (Universität Bremen), Sommerforum Medienkompetenz © FSFZur Qual der Wahl kommt zunehmender Stress, etwas zu verpassen. „Wir sind immer online. Es gibt kein bewusstes Einschalten mehr“, sagte Dr. Friedrich Krotz (Universität Bremen), doch warnte er vor allem die Älteren, reflexartig alles Neue abzulehnen. Nach der Erfindung des Fernsprechers sei allen Ernstes die Frage „Darf man Frauen überhaupt telefonieren lassen?“ diskutiert worden. Heute trennt eine Kluft weniger die Geschlechter, sondern vielmehr höher und niedriger Gebildete, Besserverdienende und Arme. Die da oben sind zu rund 90% privat online, die da unten nur zur 50%.

 

Ayaan Hussein (Stiftung für Zukunftsfragen), Sommerforum Medienkompetenz © FSFDiese „digitale Spaltung“ nannte Ayaan Hussein von der Stiftung für Zukunftsfragen als Ergebnis ihrer aktuellen Freizeitanalyse. Außerdem: 89% fühlten sich vom Medienangebot überfordert, bei 80% fördere die Sinnüberreizung Aggressivität.

 

 

 

Elisabeth Königstein (Universität Würzburg), Sommerforum Medienkompetenz © FSFEntspannung bleibt oft auf der Strecke. Dabei schalten vier von fünf Fernsehzuschauern nach eigenem Bekunden ausdrücklich ein, um sich zu erholen. Das stellte Elisabeth Königstein (Universität Würzburg) ebenso fest wie eine „erholungsirrelevante Selektion“.

Egal ob Gruselserien wie The Walking Dead oder Wohlfühl-Content: Extensives Abtauchen erzeuge schlechtes Gewissen, weil man Wichtigeres vernachlässige. „Schlimmstenfalls bekommt man beim Anschauen einer Netflix-Serie zwei bis fünf Tage nichts anderes geschafft“, bestätigte Moderatorin Christine Watty.

 

Andre Wilkens (Autor Analog ist das neue Bio), Sommerforum Medienkompetenz © FSFAnzeichen für eine Trendwende sieht der Politikwissenschaftler Andre Wilkens, Autor des Sachbuchs Analog ist das neue Bio. In seinem Berliner Kiez habe sich eine neue(!) Videothek zum angesagten Treffpunkt für Cineasten entwickelt, die hier Filmtipps unter vier Augen austauschen und ihre Vorlieben nicht von Streamingdiensten gespeichert wissen wollen. Der Psychotherapeut Dr. Jan Glasenapp berichtete über seinen Selbstversuch, bei dem er bewusst ein ganzes Jahr lang auf sämtliche Nachrichten verzichtete. Als früherer News-Junkie habe er „einen Teufelskreis unterbrochen“.

 

Christiane Watty (Moderation), Dr. Jan Glasenapp (Psychotherapeut) und Dr. Susanne Eggert (JFF) v.li., Sommerforum Medienkompetenz © FSFDoch Kinder und Jugendliche sind einfach zu neugierig, um ihnen Verzicht zu verordnen. „Zensur eignet sich nicht“, sagte Dr. Susanne Eggert vom JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis. Neben Kompetenzen bräuchten sie „einen gewissen Schutz“ und sollten lernen, „Medien zu bestimmten Zwecken zu nutzen – nicht nur, weil sie da sind“. Wie heilsam gezieltes Abschalten gerade für Familien sein kann, beweist der Dolmio Pepper Hacker: Ein einziger Dreh dieser (fiktiven) Hightech-Pfeffermühle, schon legt der Koch sämtliche Geräte im heimischen W-LAN still. Auf den Frust folgen gesellige Runden am Esstisch – und auf die Vorführung des coolen australischen Video-Spots große zustimmende Heiterkeit beim Sommerforum. Anka Heinze: „Der neue Luxus ist Offline.“

 

Prof. Joachim von Gottberg, Geschäftsführer Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF)) und Anka Heinze, stellvertretende Direktorin der Medienanstalt Berlin-Brandenburg (mabb), Sommerforum Medienkompetenz 2015 © FSF

Im Rahmen des Sommerforum Medienkompetenz wurde der medius 2015 verliehen. Informationen rund um die Preisverleihung sowie die Bilder zu dieser, finden Sie hier.

Über Uwe Spörl

Uwe Spoerl arbeitet als freiberuflicher Autor und Fernsehkritiker. Er war Redakteur beim Kölner Stadt-Anzeiger, beim Sender Freies Berlin (SFB) und Gründungs-Chefredakteur von Radio Köln.