Ich und die Anderen: Staffel 1
Sechsteilige Dramedy ab heute, 20.15 Uhr in Doppelfolge bei Sky Atlantic
Die Welt in einer unbestimmten deutschen Großstadt in naher Zukunft „… ist eine verrückte Welt, crazy bitch“. Glas, Chrome und Hochhausfassaden umgeben den von Tom Schilling gespielten Protagonisten Tristan. Ist er ein Mad Men, ein Enkel von Don Draper, dem fiktionalen Ladiesman, der als Serienheld im Anzug und Cadillac durch ein Manhattan der 60er Jahre geisterte? Die hohe Dichte von Designklassikern am Set könnte dafür eine heiße Spur sein. Schwärmeweise stehen Lounge Chairs von Charles Eames und sogar die wenig bekannten Flag Halyard GE225 Easy Chairs von Hans J. Wegner herum und sorgen mit Carl Auböck Tree Trunk Tischen arrangiert für eine distinktive Atmosphäre.
Regisseur, Autor und Mitbegründer der Produktionsfirma Superfilm David Schalko kennt sich in dieser Welt aus. Er war Webetexter, Sexkolumnist und ist unter vielem anderen auch der Verfasser der Trilogie der Gier und Korruption.
Von einem Taxi ins Büro entführt, läuft für Tristan nicht alles glatt. Alle Welt kennt seine Gedanken. Der Bettler weiß, dass er, obwohl er das verneint, Kleingeld bei sich hat. Der schwarze Kellner im Coffeeshop versteht, dass Tristan ihm nur aus latentem Rassismus Trinkgeld gibt. Beim Betreten der Firmenlobby wird ihm beschieden, dass sein Penis nur um höchstens drei Zentimeter verlängert werden kann und dann geht auch noch eine Frau auf ihn los, deren Body-Mass-Index deutlich über dem seinen liegt. Sein Freund Hubert will auf der imposanten Dachterrasse lieber rauchen als sein Freund Hubert sein. Er selbst versucht nicht mehr Tristan zu heißen, sondern will viel lieber Martin sein wie alle anderen Normalos auch. Sich von seiner Schwester – natürlich Isolde – distanzieren und vor allem von seinen grellen peniskultigen Erfolgseltern, die ihn in exaltierter Garderobe verfolgen und mit ihren peinlich intellektualisierten Gemeinplätzen kujonieren. Aber die Namenänderung wird unnötig. Denn alle handelnden Figuren beginnen, wie in einem indischen Film, um ihn herum zu tanzen. Plötzlich lieben alle Tristan, wollen sich am Leib Tristans berauschen, tanzend, liebend, singend formieren sie Massenornamente, um ihm zu huldigen.
Er wird das Werbegesicht eines euphorisierenden Erfrischungsgetränks und sogar seine schwangere Frau Julia hat einen Orgasmus mit ihm – und nur mit ihm, nachdem ihr dieser auf dem Rücksitz des Taxis mit einem völlig Fremden noch versagt geblieben war. Mit weit geöffneten Armen verabschiedet Tristan wie ein Anti-Fidus die untergehende Sonne, die jener deutsche Maler noch auf seinen Werken bei ihrem Aufgang von nackten Schönheiten begrüßen ließ.
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Leicht zu betreten ist sie nicht, die verrückte Welt des Tristan, crazy bitch. Surreal, symbolistisch und deklamierend hält sie Kinder auf Abstand. Das theatralisch artifizielle Setting setzt nicht immer auf plausiblen Erzählverlauf, weswegen eine nachhaltige Ängstigung oder sozialethische Desorientierung von Kindern ab 12 Jahren nicht zu befürchten ist. In der Programmprüfung wurden der misogyne Sprachgebrauch, die Verknüpfung von Sexualität und Gewalt sowie die bildfüllende, rasierte Vagina einer jungen Frau, aus der Wespen kriechen, diskutiert. Hier entlastet der Kunstkontext – und immerhin präsentierte Gustave Courbet – wenn auch beide unrasiert – den gleichen Ausschnitt bereits 1866 als Der Ursprung der Welt.
Allerdings ohne Wespen – bekanntlich könnten sie stechen oder sich sequenziell als Horrorbild in dieser Verbindung ins Gehirn brennen, wenn man doch gerade dabei ist, die schönste Sache zu entdecken, die die crazy Welt zu bieten hat. Möglicherweise schockierend für den unter 12-jährigen Kunstfilm-Unkundigen im Tagesprogramm.
Kurz flammt ein verheißungsvoller Science-Fiktion-Plot auf. Tristan soll „Bobby“ bewerben. Eine Art Lebensnavigator, der wie ein Hörgerät ins Ohr gesteckt wird und fortan bestimmt, wo es lang geht. Eine aktive Bündelung aller New-Age-Lebenshilfen mit Kompatibilitätsprognose für Partner*innen im jeweiligen Gesichtsfeld. Schön wär’s! Endlich Orientierung in dieser konsumgesättigten Welt.
„Protect me from what I want“ malen tanzende halbnackte Olympioniken mit blutroter Farbe aus einer Babybadewanne als zentrale Aussage auf die Wand. Das ist das Lebensgefühl der „crazy world, bitch“. Du kannst dir nie mehr sicher sein. Jede Entscheidung ist möglicherweise falsch und nie mehr moralisch einwandfrei. Durch das Meer der Möglichkeiten taumelnd ziehen wir, uns dabei langweilend, einen Schleier von Fehlentscheidungen hinter uns her bis in den Abgrund. Man kann leider nicht alle Bedürfnisse durch Waren befriedigen.
Freund Hubert kündigt und „gibt das Telefon ab wie eine Dienstwaffe“. Wird zum Kommissar und greift fortan ermittelnd ins Leben der anderen ein.
Diese vielleicht erste deutsche Kunstfilm-Serie lässt vieles ahnen und bietet zugleich Raum für Interpretation. Das kann sehr befreiend sein. Man muss nicht sklavisch der Handlung folgen, sondern kann wie im Theater das Episodische genießen, das einen seinen eigenen Assoziationen folgend immer weiter trägt ins Waldhaus, in die deutsche Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Man gibt sich den wildesten Vermutungen hin. Ist zum Beispiel der Taxifahrer mit Migrationshintergrund in Wirklichkeit Gott?
FSF: freigegeben ab …?
Die Serie wird überwiegend für eine Ausstrahlung im Hauptabendprogramm/ab 12 Jahren freigegeben. Weitere Information zu dieser und weiteren ProgrammInfos aus der Programmprüfung sind auf der Website nachzulesen.
Pay-TV-Anbieter oder Streamingdienste können eine Jugendschutzsperre aktivieren, die von den Zuschauern mit der Eingabe einer Jugendschutz-PIN freigeschaltet werden muss. Somit gelten die üblichen Sendezeitbeschränkungen und Schnittauflagen nicht. Weitere Informationen zu Vorschriften und Anforderungen an digitale Vorsperren als Alternative zur Vergabe von Sendezeitbeschränkungen sind im Jugendmedienschutz-Staatsvertrag (§ 5 Abs. 3 Nr. 1; § 9 Abs. 2 JMStV) sowie in der Jugendschutzsatzung der Landesmedienanstalten (§ 2 bis § 5 JSS) zu finden.”
Bitte beachten Sie: Bei den Altersfreigaben handelt es sich nicht um pädagogische Empfehlungen, sondern um die Angabe der Altersstufe, für die ein Programm nach Einschätzung der Prüferinnen und Prüfer keine entwicklungsbeeinträchtigenden Wirkungsrisiken mehr bedeutet.
Mehr Informationen zur Programmprüfung erhalten Sie auf unserer Website. Dort veröffentlichen wir jede Woche neue ProgrammInfos zum aktuellen Fernsehprogramm. Auch diese Auswahl stellt keine Empfehlung dar, sondern zeigt einen Querschnitt der Programme, die den Prüfausschüssen der FSF von den Mitgliedssendern vorgelegt werden.
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Zu weiteren Texten aus der Rubrik Neues aus der Programmprüfung