Die Drogensucht ist noch das kleinste Problem

Gerade erst aus der Entzugsklinik entlassen, in die sie nach einer lebensgefährlichen Überdosis eingewiesen wurde, lässt die Schülerin Rue (Zendaya) keinen Zweifel an ihren Absichten: „Ich hatte nicht vor, clean zu bleiben.“ Natürlich sagt sie das nicht zu ihrer Mutter und ihrer Schwester, die sie von der Klinik abgeholt haben und fest daran glauben wollen, dass jetzt alles gut wird. Sie sagt es im Voiceover, zu uns. Die direkte Ansprache und die schonungslose, geradezu therapeutische Offenheit, mit der die Protagonistinnen ihre Probleme und Krisen schildern, ziehen einen direkt in den Bann der von HBO produzierten und hierzulande bei Sky zu sehenden Serie „Euphoria“. Wobei die sehr subjektive Schilderung auch verzerrt: aus Sicht der Süchtigen ist nämlich nicht die Sucht das Problem („I don’t have a drinking problem ’cept when I can’t get a drink“, sang schon Tom Waits), und für die eng mit ihrem Dealer befreundete Rue auch nicht die Beschaffung. Ihr Problem besteht darin, dass sie ihrer Mutter regelmäßig unbelastete Urinproben vorlegen muss. Aber auch dafür gibt es eine Lösung.

Rue fügt sich ein in die Riege schwer gestörter Teenager, von denen Euphoria erzählt. Da gibt es Kat (Barbie Ferreira), die sich wegen ihres Übergewichts als Außenseiterin fühlt, bis sie feststellt, dass sich mit erotischen Online-Videos in der Fetisch-Szene gutes Geld verdienen lässt. Es gibt die neu in die nicht näher spezifizierte Stadt gezogene transsexuelle Jules (Hunter Schafer), die riskante Dates mit wildfremden Männern eingeht. Oder Nate (Jacob Elordi), den seine uneingestandene Homosexualität zum Choleriker macht. Jede Episode beginnt mit einer Rückblende in die Kindheit einer Figur, in der stets die Wurzeln des späteren Übels zu finden sind. Diese können amüsant sein, wie bei Kat, die sich als Elfjährige im All-Inclusive-Urlaub schrecklich langweilt, bis sie die Bar entdeckt und durch den maßlosen Konsum alkoholfreier Cocktails zehn Kilo zunimmt. Oder tragisch, wie bei Rue, die als 13-Jährige ihren krebskranken Vater pflegt und irgendwann beginnt, sich an dessen Opioiden zu bedienen.

Die Themen, die Euphoria behandelt, sind für Jugendliche von hoher Relevanz: Identität, Social Media, Sexualität, Pornografie, Drogen. Auch von der Erzählweise dürften sich Jugendliche stark angesprochen fühlen: Perspektiven werden ebenso unvermittelt gewechselt wie Zeit- und Realitätsebenen, die Kamera führt wie auch das sehr gute Drehbuch ganz nah an die Wahrnehmungswelt der Figuren heran, dazu kommen attraktive und prominente Darstellerinnen (allen voran die aus den Disney-Serien Shake It Up – Tanzen ist alles und K.C. Undercover bekannte Zendaya) und ein zeitgemäßer, Hiphop-lastiger Soundtrack. Überhaupt ist Euphoria äußerst Hiphop-affin: nicht nur hat jede Episode einen bekannten Song zum Titel, der kanadische Superstar Drake zählt auch höchstpersönlich zu den Produzenten.

Aus Jugendschutzperspektive ist die Serie dennoch alles andere als unproblematisch, sodass der Prüfausschuss die ersten drei Episoden erst für das Spätabendprogramm ab 16 Jahren – anstatt wie beantragt für das Hauptabendprogramm – freigeben konnte. Ausschlaggebend für diese Prüfentscheidung war zum einen die ungewöhnliche Explizitheit der Serie. So unverblümt die Protagonistinnen auf der Tonebene von ihren intimsten Krisen erzählen, so deutlich werden diese auch ins Bild gesetzt. Drogenkonsum und Sex werden hier nicht dezent angedeutet, sondern direkt und ungeschönt gezeigt. Als sich Kat in der dritten Episode auf ein bezahltes Skype-Gespräch einlässt, sieht man ihren Gesprächspartner frontal minutenlang masturbieren. Und als es um Sexting geht, wird anhand von Dutzenden Penis-Nahaufnahmen eine kurze Ikonografie des Dick-Pics entworfen.

Zum anderen ist Euphoria bei aller Drastik zugleich auch ausgesprochen subtil. Eine vernünftige Stimme, die das regelmäßig selbstzerstörerische Verhalten der Jugendlichen einordnet, gibt es nicht. Es bleibt dem Publikum überlassen, die Brüche in den Figuren zu erkennen und ihre Selbsttäuschungen zu entlarven. Das macht maßgeblich den Reiz und die Qualität der Serie aus, ist aus Jugendschutzsicht jedoch nicht minder problematisch als die Explizitheit. Unter 16-Jährigen, die vermutlich in erster Linie von der visuellen und wortwörtlichen Ebene der Serie angesprochen werden, dürfte es schwer fallen, die implizite Gesellschaftskritik zu entschlüsseln und zur Distanzierung zu nutzen. Ältere Jugendliche dürfen sich jedoch auf eine visuell und erzählerisch komplexe sowie erfrischend unpädagogische Jugendserie freuen.

Die erste Staffel der Serie Euphoria wird ab heute, dem 16. Oktober 2019, immer mittwochs ab 20.15 Uhr in Doppelfolge bei Sky Atlantic HD ausgestrahlt.

FSF-ProgrammInfo: freigegeben ab …

FSF-Freigabe ab 16 JahrenUnvorhersehbar, multiperspektivisch, auf verschiedenen Zeitebenen und visuell originell erzählt – mit attraktiven Protagonistinnen und Protagonisten besetzt und einem zeitgenössischen, Hiphop-lastigen Soundtrack unterlegt –, besitzt Euphoria großes Potenzial, Jugendliche anzusprechen und sie mit ihren jugendrelevanten Inhalten in den Bann zu ziehen. Gezeigt werden Bilder des Drogenmissbrauchs, angewendete sexuelle Praktiken und Gewaltmomente – dargestellt von nach Orientierung suchenden Jugendlichen, die ihren Weg ins Leben erst finden müssen. Somit ist die Serie thematisch wie gestalterisch jugendaffin inszeniert, gleichzeitig entwirft sie jedoch ein düsteres Gesellschaftsbild. Der thematisierte Drogenkonsum oder auch das vielfach selbstzerstörerische Handeln der Jugendlichen sowie das Thema der Internetpornografie werden nicht direkt kritisch eingeordnet, sondern erschließen sich einem erwachsenem Publikum über die Metaebene. Ab 12-jährige Kinder sind mit der Art der Darstellung und ihrer fehlenden kritischen Einordnung überfordert und könnten womöglich nachhaltig irritiert werden. Einige Bilder könnten diese Altersgruppe auch verängstigen. Hingegen wird einem Publikum ab 16 Jahren zugetraut, die Kritik an den gesellschaftlichen Zuständen vollumfänglich dechiffrieren zu können, weshalb die Serie eine Freigabe für das Spätabendprogramm erhält.

Zur dieser und weiteren ProgrammInfos auf der FSF-Website geht es hier.

*Der Sender Sky Atlantic HD darf alle Episoden der Serie auch schon vor 22.00 Uhr ausstrahlen, weil er als Pay-TV-Anbieter eine Jugendschutzsperre aktivieren kann, die von den Zuschauern mit der Eingabe einer Jugendschutz-PIN freigeschaltet werden muss. Somit gelten die üblichen Sendezeitbeschränkungen und Schnittauflagen nicht. Weitere Informationen zu Vorschriften und Anforderungen an digitale Vorsperren als Alternative zur Vergabe von Sendezeitbeschränkungen sind im Jugendmedienschutz-Staatsvertrag (§ 5 Abs. 3 Nr. 1; § 9 Abs. 2 JMStV) sowie in der Jugendschutzsatzung der Landesmedienanstalten (§ 2 bis § 5 JSS) zu finden.”

Bitte beachten Sie: Bei den Altersfreigaben handelt es sich nicht um pädagogische Empfehlungen, sondern um die Angabe der Altersstufe, für die ein Programm nach Einschätzung der Prüferinnen und Prüfer keine entwicklungsbeeinträchtigenden Wirkungsrisiken mehr bedeutet.

Mehr Informationen zur Programmprüfung erhalten Sie auf unserer Website. Dort veröffentlichen wir jede Woche neue ProgrammInfos zum aktuellen Fernsehpramm. Auch diese Auswahl stellt keine Empfehlung dar, sondern zeigt einen Querschnitt der Programme, die den Prüfausschüssen der FSF von den Mitgliedssendern vorgelegt werden.

Über David Assmann

David Assmann studierte Mediendramaturgie in Mainz. Er arbeitet als freier Filmkritiker, Filmemacher und Filmwissenschaftler in Berlin, ist Mitglied des Auswahlgremiums für Kinder- und Jugendfilme bei der Berlinale und seit November 2018 Prüfer bei der FSF.