Gangs of London. Furios. Extrem.

Heute startet in Deutschland die Serie Gangs of London, die bereits in Großbritannien für Furore sorgte und mit einem ambitionierten Mix aus Crime-Opera, Multi-Ethnizität, Hyperpaternalismus, Gewaltexzess, politischer Zeitgeschichte, Underdog-Gosse und neoliberalem Glam aufwartet. Oder besser: Underdog-Glam und neoliberale Gosse!

Um es vorwegzunehmen: Ein außerordentlich hohes Gewaltlevel prägt die meisten Episoden, so dass sich der FSF-Prüfausschuss bei fünf der neun Episoden erst für eine Freigabe ab 18 Jahren entschied. Kein Wunder. Regisseur Gareth Evans lieferte schon mit seinen beiden The Raid-Filmen (Indonesien/USA) spektakulär und spekulativ inszenierte Gewaltorgien ab, die von der FSK keine Jugendfreigabe erhielten. Er setzte dabei auf eine Martial-Arts-Ästhetik, die hart und schnell choreografierte Action- und Kampfszenen fokussiert und vor teils verstörenden, grotesken und zynischen Gewaltinszenierungen nicht zurückschreckte. Die Kritiken fielen aufgrund des furiosen Stils zwar meist positiv aus, betonten aber immer wieder die Grenzwertigkeit der „extremen Gewaltszenen“ (Lexikon des internationalen Films). „Ein Film von bemerkenswerter Kälte“ war bei filmstarts.de zu lesen. Diese Inszenierungsstrategie findet sich nun auch im neuesten Gangsterepos wieder, das als neunteilige Sky-Eigenproduktion auf den hiesigen TV-Markt kommt.

Das britische Format spielt im London der Gegenwart und erzählt von kriminellen Clans, die die Themse-Metropole kontrollieren und sich entlang ethnischer Zugehörigkeiten definieren. Damit entfaltet sich ein imposantes Panorama von Allianzen und Clanstrukturen (Waliser, Pakistaner, Kurden, Iren, Albaner, Dänen, Nigerianer und andere), die vor allem eine Gleichwertigkeit hinsichtlich ihrer kriminellen Energie, Härte oder Militanz aufweisen. Diese Pluralität, die im wahrsten Sinne des Wortes keine Rücksicht auf Verluste nimmt, erzeugt einen Sog, der das Publikum in seinen Bann zieht.

Jeder gegen Jeden

Die Kerngeschichte ist schnell skizziert: Als der alles dominierende Gangsterboss Finn Wallace (Colm Meaney) zu Beginn der ersten Episode ermordet wird, entsteht ein Machtvakuum, das chaotische und harte Machtkämpfe im Clan-Milieu auslöst. Als Zuschauer/-in weiß man recht schnell, wer die Tat beging, aber wer steckt dahinter? Nicht nur der ältere Sohn Sean Wallace macht sich auf die Suche, auch konkurrierende Verbrechersyndikate und Undercoveragenten forschen, hacken, prügeln, foltern, morden. Die Gemengelage heißt: Jeder gegen Jeden.

Die Stars sind in dieser Serie nicht nur hervorragend besetzte ambivalente Charaktere, die Stars sind leider auch die Gewaltakte, die hier ungezügelt, aber auch hochgradig artifiziell über das Publikum hereinbrechen. Waffenstrotzend, maskulin, feminin, queer, stylisch, multi-ethnisch, divers, düster, arrogant – London als rechtsfreier Raum. Als Protagonisten stehen die Clan-Oberhäupter mit ihren Familien im Zentrum der Handlung, insbesondere Sean (Joe Cole), der ältere Sohn der Wallace-Familie. Sein kalter, trauriger Blick und seine Skrupellosigkeit lassen Zuschauerinnen und Zuschauer frösteln. Aber auch die anderen Charaktere sind exzellent. Gemeinsam ist ihnen Brutalität und Ehrenkodex.

Die Serie bewegt sich natürlich im Fahrwasser klassischer Gangsterepen von Der Pate bis Departed – Unter Feinden. Neu sind die Gewaltexzesse. In Gangs of London steckt jede Menge „Raid“. Den kriminellen Clans stehen im Übrigen nur wenige Vertreter der Ordnungsmacht gegenüber. Beim Schauen fragt man sich zurecht: Wo ist denn eigentlich die Polizei? Zwar arbeitet einer der Hauptprotagonisten (Sope Dirisu als Elliot Finch) mit den Ermittlern zusammen, aber Elliot ist selbst ein Getriebener, der gute Gangster im Gewaltnirvana der Banker-City. Jeder ist ein Feind. Intrigen. Familien. Rachephantasien. Seans Mutter Marian (Michelle Fairley) stößt in Episode sieben quasi paradigmatisch den Ruf „Just Families!“ aus – und damit ist nicht der Kindergarten gemeint, sondern das Blut, das verbindet!

 

FSF: freigegeben ab?

FSF-Altersfreigabe ab 18 Jahren

Der Serienplot wird über die Episoden hinweg erzählt, dennoch bieten die einzelnen Folgen vorläufig abgeschlossene Teilaspekte, die zu späteren Zeitpunkten wieder aufgegriffen werden. Die atmosphärisch dichte Erzählung ist fokussiert auf intensive Höhepunkte und weniger auf entlastende Passagen. Das Gangsterdrama kommt als bildmächtiges Gewaltspektakel daher, das auf eine ernsthafte Dramaturgie und ein durchaus realitätsnahes Look and Feel setzt. Die zumeist düstere Inszenierung ist geprägt von drastischen Gewaltspitzen, die zuweilen gewaltbefürwortend in Szene gesetzt, aber durch die Handlungskontexte durchaus plausibel intendiert sind. Die Mehrheit der Episoden wurde, bei aller Künstlichkeit, zum Teil als verrohend und desensibilisierend für unter 18-Jährige eingeschätzt. So sind diverse brutale Kampfszenen und Morde zu sehen, die mit Hingabe den Schauwert grausamer Details fokussieren. Auch wenn die Gewalthandlungen genretypisch exzessiv und zuweilen überchoreografiert sind, haben sie durchaus einen spekulativen Grundton. Eine gewisse Gewaltlust ist der drastischen Inszenierung nicht abzusprechen, was als sozialethisch desorientierend gewertet wurde. Einge Episoden erhielten aber auch eine Freigabe ab 16 Jahren. Bei ihnen wird dieser Altersgruppe zugetraut, sich von den Gewaltexzessen distanzieren und diese Szenen einordnen zu können. Die Gewaltexzesse sind dramaturgisch zumeist angebahnt und einordenbar. Es gibt zudem kaum deutlich positive Identifikationsfiguren. Selbst Elliot folgt man nur aus Distanz. Das exzessive Gewalthandeln ist klar als ein Teil eines Verbrechermilieus zu erkennen. Bemerkenswert ist die Komplexität und Vielschichtigkeit des Plots, der ein weit aufgefächertes Figurenensemble aufweist, eine faszinierende, aber auch zynische Inszenierung des neoliberalen Londons. Die Skrupellosigkeit des turbokapitalistischen Zeitgeistes durchweht jede Pore des Films. Luxus und Gosse sind fest verwoben, etwas Durchschnittliches gibt es hier nicht, nur Extreme. Das gilt für die exzellente Besetzung ebenso wie für die überbordende Gewalt, die sich wild über Genrekonventionen hinwegbewegt. Hier werden Bauernhäuser zu Kriegslandschaften, Gangrivalitäten zu Massakern und Beziehungen zu Folterhöhlen. Kriegsfilm, Splatter, Western, Gangsterdrama – ja, Oper müsste man eigentlich sagen. Ein Epos ohne Grenzen. All das muss man aushalten, man kann es auch bewundern. Aber getreu dem Motto eines regionalen Radiosenders ist zu sagen: Nur für Erwachsene!

 

Die Ausstrahlung der Dramaserie Gangs of London beginnt ab heute, 21.20 Uhr, bei Sky Atlantic HD. Die komplette erste Staffel ist ab heute zudem im Stream auf Sky Ticket verfügbar. In England sahen die Auftaktfolge mehr als zwei Millionen Zuschauer. Eine zweite Staffel ist bereits beauftragt. Weitere Informationen zur Serie: sky.de.

 

Zu weiteren ProgrammInfos auf der FSF-Website geht es hier.

Pay-TV-Anbieter oder Streamingdienste können eine Jugendschutzsperre aktivieren, die von den Zuschauern mit der Eingabe einer Jugendschutz-PIN freigeschaltet werden muss. Somit gelten die üblichen Sendezeitbeschränkungen und Schnittauflagen nicht. Weitere Informationen zu Vorschriften und Anforderungen an digitale Vorsperren als Alternative zur Vergabe von Sendezeitbeschränkungen sind im Jugendmedienschutz-Staatsvertrag (§ 5 Abs. 3 Nr. 1; § 9 Abs. 2 JMStV) sowie in der Jugendschutzsatzung der Landesmedienanstalten (§ 2 bis § 5 JSS) zu finden.”

Bitte beachten Sie: Bei den Altersfreigaben handelt es sich nicht um pädagogische Empfehlungen, sondern um die Angabe der Altersstufe, für die ein Programm nach Einschätzung der Prüferinnen und Prüfer keine entwicklungsbeeinträchtigenden Wirkungsrisiken mehr bedeutet.

Mehr Informationen zur Programmprüfung erhalten Sie auf unserer Website. Dort veröffentlichen wir in unregelmäßigen Abständen neue ProgrammInfos zum aktuellen Fernsehprogramm. Auch diese Auswahl stellt keine Empfehlung dar, sondern zeigt einen Querschnitt der Programme, die den Prüfausschüssen der FSF von den Mitgliedssendern und externen Antragstellern vorgelegt.

Über Uwe Breitenborn

Dr. Uwe Breitenborn, hauptamtlicher Prüfer der FSF, Dozent und Autor, Bildungsreferent der Medienwerkstatt Potsdam, zahlreiche Veröffentlichungen zur Mediengeschichte, Musiksoziologie, und Kulturwissenschaft. Von 2014-2019 Vertretung der Professur Onlinejournalismus an der Hochschule Magdeburg-Stendal. Zuvor u.a. Arbeit an der Martin-Luther-Universität Halle und beim DRA Babelsberg.