FSF-geprüft: Ein Fernsehvormittag über das (Über-) Leben

Der Anteil an nicht fiktionalen Programmen steigt in der FSF-Prüfung stetig an, weshalb wir auch im Blog gut daran tun, immer wieder und immer mehr auf die FSF-geprüften Dokumentationen, Reportagen und Realityserien hinzuweisen, wie jüngst zu Appalachain Outlaw, Hass auf der Haut, Höllische Diäten, Teuflische Schwestern, My Big Fat Gypsy Wedding u.v.m.

Heute jedoch soll nicht ein Realityformat vorgestellt werden, sondern die jugendmedienschutzrelevanten Besonderheiten des Vormittagsprogramm eines Senders, der sich auf Real-Life-Unterhaltung spezialisiert hat:
The Biography Channel, kurz bio. Anders als TLC oder DMAX orientiert sich der Sender bio in seiner Programmwahl nicht an den vermeintlichen Bedürfnissen des weiblichen oder männlichen Geschlechts, sondern setzt den Fokus auf ein bestimmtes Sujet: Biografien – also Geschichten, die das Leben zeichnen. Gezeigt werden Porträts von Hollywoodstars, Königsfamilien, Künstlern, Sportlern, und „gewöhnlichen“ Menschen. Noch – denn glaubt man einigen Pressestimmen, so wird der Pay-TV-Kanal bio im September 2014 von der breiter aufgestellten Mutter-Marke A&E ersetzt, womit auch ein Relaunch des bisherigen Programms geplant ist. Von da an soll die Nischenposition verlassen und die Produktpalette an Unterhaltung um Familiy, Crime, paranormale Phänomene sowie Auktionsformate erweitert werden.

Doch in meiner aufgeschlagenen Fernsehzeitung ist noch August, genauer gesagt der 16. August. Startschuss an FSF-geprüften Programmen ist in der Rubrik bio.hautnah um 9.05 Uhr mit Ich überlebte! Darauf folgen zwei weitere FSF-geprüfte Formate: 10.00 Uhr Die Story meines Lebens und 11.00 Uhr Auf Entzug – Zurück ins Leben.

Alle drei Formate sind US-amerikanische TV-Dokumentationsreihen, die den Kampf um das Überleben bzw. den Kampf mit dem Leben schildern. Alle drei Formate sind von der FSF ab 12 Jahren für das Hauptabendprogramm freigegeben.
(* Warum darf bio die Dokus am Vormittag zeigen, obwohl sie die FSF-Freigabe ab 12 Jahren, Ausstrahlung im Hauptabendprogramm, erhielten?) Schaut man sich die Dokuformate jedoch genauer an, fällt auf, dass alle drei Formate jeweils für sich ganz eigene jugendmedienschutzrelevante Besonderheiten in ihrer Inszenierung aufweisen. In einem Gespräch mit Christina Heinen, hauptamtliche Prüferin der FSF, ging ich der Frage nach, wie die jeweiligen Inszenierungen in der FSF-Prüfpraxis bewertet und behandelt werden.

09.05 Uhr: Ich überlebte!

In der Dokureihe Ich überlebte!, die im Original I survived! (2008) heißt, berichten pro Episode drei Opfer von schrecklichen Gewaltverbrechen oder Unfällen, wie sie diese entgegen jeder Wahrscheinlichkeit überlebt haben(Ermordung der gesamten Familie, Vergewaltigung, Mordversuch, Puma- und Shimpansenangriff, Opfer einer Feuerbrunst u.v.m.). Die Betroffenen erzählen vor laufender Kamera in einer dunklen Studiosituation sehr detailliert von ihren traumatischen Erfahrungen, wodurch der Gewaltakt für den Zuschauer plastisch vorstellbar wird („er beobachtete das Zittern der Messerklinge, die er auf meine Brust ansetzte“; „Ich spürte, wie der warme Saft aus mir herauslief“; „er war ausgeweidet, ein blutiger Fleischhaufen“). Explizite Gewaltbilder oder fiktionale Nachstellungen kommen hier überhaupt nicht vor; zu sehen sind lediglich einzelne Standbilder der Tatorte. Zusätzliche Spannung wird über die geschickte Montage der drei porträtierten Einzelschicksale und Musik- und Soundeffekte erreicht.

Christina Heinen bezeichnet dieses Format als Ausreißer. Es stünde dem, was die FSF sonst an non fiktionalen Formaten prüfe insofern quer entgegen, als dass hier nicht mit drastischen Bildern oder nachgespielten Szenen gearbeitet werden würde, sondern mit dichter Beschreibung. Was für Vorstellungen hierdurch im Kopf des Zuschauers entständen, und inwiefern diese nachhaltig ängstigend seien, könne schwer bis gar nicht vom Jugendmedienschutz erfasst und bewertet werden. Die Einschätzung einer übermäßigen Angsterzeugung erfolge deshalb primär anhand objektiv wahrnehmbarer Parameter wie der Bild- oder Audioebene. Wie schwer es ist, die Wirkung solch einer Inszenierung im Sinne des Jugendmedienschutzes zu erfassen, zeigt sich auch in dem Ergebnis des FSF-Prüfung zu Ich überlebte!: Die Minderheit bewertete den Detailreichtum der Schilderung als selbstzweckhaft und auch für die Altersgruppe der 12- bis 16-Jährigen als potenziell nachhaltig ängstigend. Die Mehrheit hingegen beurteilte das Fehlen einer Bebilderung der Verbrechen als hinreichend entlastend und sprach sich für eine Freigabe im Hauptabendprogramm aus.

10.00 Uhr: Die Story meines Lebens

Twisted Fate (Original, 2011) ist das jüngste Dokuformat unseres Fernsehvormittags. In jeder Episode werden zwei Lebenswege vorgestellt, die gekennzeichnet sind von dramatischen Wendungen – eine Mutter, deren Kinder entführt wurden; Kinder, die die Ermordung ihrer Eltern erlebten; eine Frau, die einen Bombenanschlag überlebt u.v.m. Thematisiert wird hier das Überwinden von traumatischen Erlebnissen und wie die Protagonisten gestärkt aus diesen Schicksalsschlägen hinausgehen. Die dramatischen Plots sowie die Hinführung zu diesen werden größtenteils durch Nachstellungen geschildert.

Wie geht die FSF mit solchen Nachstellungen um? Rekonstruktionen von Ereignissen erzeugen eine Spannung, die die emotionale Zuwendung insbesondere eines kindlichen Publikums erhöhen, so Christina Heinen. Je nach Inhalt und Gestaltung können durch solche Szenen Angstwirkungen gesteigert werden. Deshalb gilt grundsätzlich, dass Dokuformate, die das Leid eines Verbrechensopfers in emotionalisierender und personalisierender Weise in den Mittelpunkt stellen, nicht im Tagesprogramm auszustrahlen sind. Andererseits würde in der Prüfpraxis auch berücksichtigt werden, dass solche Fiktionalisierungen auch wünschenswerte Reaktionen hervorrufen können, wie z.B. Mitleid bewirken oder kriegskritische Aussagetendenzen stützen. Zum Teil würde versucht werden mit solchen Nachstellungen Kinder und Jugendliche zu provozieren und Botschaften wie „Das Verbrechen der Nazis war unmenschlich“ oder „Drogen sind schlecht“ zu stützen, denn Angst könne ja auch schützen. Abschließend gibt Heinen jedoch zu bedenken, dass sich Kinder und Jugendliche bei einem zu hohen Maß an Provokation und Angst einer weiteren Auseinandersetzung mit dem Gegenstand völlig entziehen können; Angst sei insofern kein probates pädagogisches Mittel. Für den Fall Die Story meines Lebens entschied der Prüfausschuss, dass die Nachstellungen Gewaltbilder zeigten, die das Potenzial hätten, Kinder unter 12 Jahren nachhaltig zu ängstigen.

11.00 Uhr: Auf Entzug – Zurück ins Leben

Das bekannteste Format dieser Sendungen ist sicherlich Sam Mettlers Dokureihe Auf Entzug – Zurück ins Leben (2005). Die Sendung wurde 2009 mit dem Emmy ausgezeichnet und umfasst mittlerweile 14 Staffeln. Der Originaltitel Intervention erfasst meiner Meinung nach den Gegenstand dieser Sendung weitaus treffender, denn in diesem Format sollen uneingeweihte Drogenabhängige, die lediglich eingewilligt haben, an einer Doku über Abhängigkeit teilzunehmen, von ihren Angehörigen dazu gebracht werden, einen Entzug zu wagen. Die einzelnen Episoden porträtieren zunächst in ca. 30 Minuten den Suchtalltag der betroffenen Person. Dieser wird ungeschönt und detailliert inklusive der Drogeneinnahme sowie den daraus resultierenden Gefahren (wie Trunkenheit am Steuer) und sozialen und gesundheitlichen Folgen gezeigt. Geschildert werden prägende Kindheitserlebnisse sowie andere einschlagende Ereignisse in den Biografien der Betroffenen selbst. Danach findet die für die Süchtigen unerwartete Konfrontation statt: Die Suchtkranken werden überraschend von ihrer Familie mit der Aufforderung konfrontiert, sich in eine Therapie zu begeben. Im Vorfeld dieser Intervention wird gezeigt, wie sich die Familie auf diese Begegnung mithilfe professioneller Beratung in mehreren Gesprächen vorbereitet. Die Mehrheit der Betroffenen stimmt einer Therapie zu und wird unverzüglich in eine anerkannte Einrichtung eingewiesen. Der Verlauf der Therapie wird nicht gezeigt, jedoch gibt eine Textblende am Ende der Dokumentation Auskunft über den Erfolg bzw. Misserfolg des Entzugs.

Der Prüfausschuss dieses Formats betrachtete insbesondere die aufdringliche Darstellungsweise der Süchtigen im Rausch problematisch. Während Zuschauern ab 12 Jahren durchaus zugetraut wurde, solche Bilder im Gesamtzusammenhang der Doku zu verstehen und in Relation zu den negativen Folgen des Drogenkonsums zu rezipieren, ging man bei jüngeren Kindern unter 12 Jahren davon aus, dass derartige Bilder schlicht als drastische Einzelbilder erinnert werden würden und eine übermäßige Ängstigung provozieren könnten.

Am Ende meines Fernsehvormittags fragte ich mich, inwiefern aus solchen Dokuformaten ein pädagogischer Nutzen bzw. ein für die Gesellschaft wertvoller Informationsgewinn hervorgeht. Christina Heinen gibt mir einen Impuls: „Aus dem amerikanischen Kontext betrachtet, sollen solche Formate wie I survived! unter Umständen der Opferbewegung dienen, indem gezeigt wird, dass der Status des Opfers ein vorübergehender ist.“ Gleichzeitig gibt sie jedoch zu bedenken, dass durch solche Überlebensschilderungen eher Ängste in der breiten Gesellschaft geschürt werden.

Die FSF-Freigabeentscheidungen zu allen drei Dokumentationen können Sie in der Rubrik Aktuelle ProgrammInfos auf der FSF-Website nachlesen.

Bitte beachten Sie: Bei den Altersfreigaben handelt es sich nicht um pädagogische Empfehlungen, sondern um die Angabe der Altersstufe, für die ein Programm nach Einschätzung der Prüferinnen und Prüfer keine entwicklungsbeeinträchtigenden Wirkungsrisiken mehr bedeutet.

* Für Anbieter, die ein Jugendschutzsignal vorschalten können (z.B. Sky, bio, Fox u.a.), gelten die üblichen Sendezeitbeschränkungen und Schnittauflagen nicht. Als Alternative zu der Vergabe von Sendezeitbeschränkungen ist es den digital verbreitenden, privaten Anbietern möglich, von den üblichen Sendezeitbeschränkungen abzuweichen, wenn sie über eine digitale Vorsperre verfügen (vgl. § 9 Abs. 2 JMStV/Konkretisierung durch Jugendschutzsatzung (JSS)); ansonsten würde der Nutzervorteil des digitalen Fernsehens, Abruf nach individuell gewünschter Zeit, wesentlich beschränkt. Gemäß § 2 Abs. 1 JSS muss sichergestellt sein, dass das Angebot verschlüsselt oder vorgesperrt ist und eine Freischaltung nur für die Dauer der Sendung möglich ist.

Mehr Informationen zur Programmprüfung erhalten Sie auf unserer Website. Dort veröffentlichen wir jede Woche neue ProgrammInfos zum aktuellen Fernsehprogramm. Auch diese Auswahl stellt keine Empfehlung dar, sondern zeigt einen Querschnitt der Programme, die den Prüfausschüssen der FSF von den Mitgliedssendern vorgelegt werden.

Über Mareike Müller

Mareike Müller studierte Kulturanthropologie und Rechtswissenschaften (BA) sowie European Studies (MA) an der Georg-August Universität Göttingen und Europa Universität Viadrina. Nach verschiedenen Erfahrungen in der politischen und kulturellen Vermittlungsarbeit im In- und Ausland war sie von 2012 bis 2014 als studentische Mitarbeiterin bei der FSF redaktionell und im Projektmanagement tätig. Seit 2015 schreibt sie als freie Autorin für der FSF-Blog.