15 Minutes of Fame? 15 Minuten Fernsehkultur!

Seit Mai sind Joko & Klaas mit der 3. Staffel des Formates Joko & Klaas gegen Pro7 am Start, bei dem sie gegen das „Sender-Universum“ spielen und eine Viertelstunde Sendeplatz zur Primetime gewinnen können. Diese 15 Minuten Joko & Klaas LIVE dürfen sie am darauffolgenden Tag frei gestalten. Das wirkt ein bisschen wie früher, als Live-Unterhaltungssendungen irgendwie noch unvorhersehbar schienen. Unerwartbar. Joko und Klaas haben hier ein Überraschungsmomentum auf ihrer Seite, das sich frisch anfühlt, ein live gesendetes Stück, bei dem man vorher nicht weiß, was passiert. Am 13. Mai war es wieder soweit.

 

Verstörende Männerwelten

„Das werden heute die wohl speziellsten 15 Minuten, die wir je gesendet haben. Nichts für schwache Nerven“ twitterte Klaas Heufer-Umlauf zuvor. Und mit Blick auf den großen Themenverdränger Corona schrieben Joko und Klaas: „Fast die Hälfte aller Frauen in Deutschland wurde schon einmal sexuell belästigt. Auch in den aktuellen Krisenzeiten dürfen andere wichtige Themen nicht untergehen.“ Über das, was zu sehen war, ist mittlerweile viel geschrieben worden. Sophie Passmann führte durch eine fingierte Kunstausstellung mit dem Namen Männerwelten und präsentierte gemeinsam mit anderen prominenten Frauen ungeschönt die leider vielgestaltigen Facetten sexueller Übergriffe. „Es wird hart, es wird bitter und für manche kaum zu glauben, aber wir müssen da jetzt gemeinsam durch“, so Passmann zu Beginn. Es ging um dumme, sexistische Dick Pics (Genitalbilder), die viele Frauen ungefragt von Männern zugeschickt bekommen. Palina Rojinski nannte dies „einfach unter aller Sau“ und „verstörend“. Das grenzt an virtuellen Missbrauch, so Rojinski. Mit dabei sind auch die Fernsehmoderatorin Jeannine Michaelsen, Rapperin Visa Vie, Model Stefanie Giesinger, Schauspielerin Collien Ulmen-Fernandes und Entertainerin Katrin Bauerfeind, die unter anderem an sie gerichtete Hasskommentare und üble sexistische Chatverläufe vortrugen. Vieles macht sprachlos, ist aber offensichtlich alltägliche Realität im Jahre 2020.

 

Mediales Rauschen und Reaktionen

Die Ernsthaftigkeit, Souveränität sowie Nachdrücklichkeit dieser 15 Minuten waren beeindruckend, die Reaktionen seitens der Presse, aber vor allem der Zuschauerinnen und Zuschauer ebenfalls. Unter dem Hashtag #maennerwelten waren bis zum Mittag des 14. Mai bereits über 18.000 Tweets aufgelaufen. Sogar Außenminister Heiko Maas bedankte sich bei Joko & Klaas und den Frauen: „Lasst uns gemeinsam gegen Sexismus und sexualisierte Gewalt kämpfen.“ Einige sprachen gar von der wichtigsten Fernsehsendung des Jahres. Mal sehen, was noch kommt. Vier Tage später hatte der Clip bei YouTube bereits über 3,5 Millionen Aufrufe. Auch die Einschaltquoten waren außerordentlich. Über 2 Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer erreichte die Sendung, was einem Marktanteil von 6,3 Prozent des Gesamtpublikums entspricht. Bei der Zuschauergruppe zwischen 14 und 49 Jahren lag er sogar bei 16,8 Prozent. Keine andere Sendung hatte an diesem Mittwochabend mehr junge Zuschauer/-innen.
Journalistinnen kommentierten das Format mit Verve und Lob. „Zeigt sie an!“ war der Kommentar Elena Witzecks in der FAZ betitelt, Sabine Winkler hob in der WELT die Wichtigkeit hervor und in der TAZ fragte Caroline Schwarz unter anderem, wieso Joko & Klaas nicht ihre eigenen sexistischen Sünden thematisierten, wie beispielsweise die Hostess-Wette von 2012. Einig waren sich aber alle, dass diese 15 Minuten ein engagiertes Stück Fernsehkultur sind, das absolut wichtig ist und in die richtige Richtung geht.

Sendung vom 13. Mai 2020, YouTube: Männerwelten – Belästigung von Frauen | Joko & Klaas 15 Minuten Live mit entsprechender Warnung für empfindsame Zuschauer, da möglicherweise verstörender Inhalt enthalten

 

Darf man das?

Sind die 15 Minuten auch hinsichtlich der FSF-Jugendschutzkriterien relevant? Klaas Heufer-Umlauf twitterte immerhin zuvor kokett: „ich bin mir außerdem nicht sicher wie 20:15 tauglich das alles ist“. (Anm. d. Redaktion: Ansicht des YouTube-Videos nur per Anmeldung und Altersbestätigung möglich: „Dieses Video ist eventuell für einige Nutzer unangemessen.“) Ganz klar – hier wurden bedrückende, verstörende Sachverhalte präsentiert, die auch schon mit den Alltagswelten 12-Jähriger korrespondieren können. Das kann ängstigend sein. Ja, das muss auch Angst machen. Harte Sachverhalte, explizite Begriffe („Schlampe“, „hässliches Fickstück“, „dreckige Hure“, „Fotze“), Dick Pics – wenn auch verblurrt und verbalkt. Ist das nicht zu hart? Darf man das um 20.15 Uhr? Auf jeden Fall. Das Entscheidende ist der Kontext. Und der ist in diesem Stück so eindeutig, haltungsstark und einordnend, dass das Verstörende kein Risiko, sondern ein Gewinn ist. Das Format erweist sich hier als großes Aufklärungsstück. Anspruch und Anliegen des Formates dominieren eindeutig eventuelle Risikoabwägungen hinsichtlich jugendschützerischer Belange. Im Gegenteil, gerade durch seine Drastik, Schonungslosigkeit und ungefilterte Erzählung ist das Format ein wichtiger Beitrag zur Sensibilisierung zum Thema Sexismus. Und letztlich finden wir sogar hilfreiche Einordnungen, wenn Sophie Passmann lakonisch anmerkt: „Übrigens, das Verschicken von Dick Pics ist nach Paragraf 184 Strafgesetzbuch strafbar.“ So muss es sein!

 

Ein Format mit Format

Man darf gespannt sein, wie Joko & Klaas das 15 Minuten-Format in Zukunft nutzen werden. Der Erfolg gibt ihnen recht. Ernsthafte, problemorientierte Themen erreichen durch dieses Format jugendliche Zuschauerinnen und Zuschauer. Bisher gab es insgesamt fünf 15 Minuten, die gesendet wurden, erstmalig am 29. Mai 2019 um 20.15 Uhr. Damals kündigten sie an, die Zeit nicht für sich, sondern für Menschen nutzen zu wollen, die „Themen mitbringen, die ein bisschen mehr Aufmerksamkeit verdient haben.“ Die ersten 15 Minuten hatten es dann auch gleich in sich. Drei Protagonist/-innen präsentierten auf einem Stuhl im Mittelpunkt sitzend ihre Sicht: Pia Klemp, Kapitänin der Iuventa 10, sprach über Seenotrettung und Migrationsabwehr im Mittelmeer, Dieter Puhl, Obdachlosenhelfer der Bahnhofsmission Zoo erzählte vom Schicksal der Obdachlosen und Birgit Lohmeyer, die in Jamel lebt, berichtete, wie sie sich gegen Neonazis wehren muss. Am 19. Juni 2019 veranstalteten Joko & Klaas ein kurioses Wettrennen, bei dem sie viermal 10.000 Euro verschenkten. Am 9. Oktober 2019 verzichteten Joko & Klaas aufgrund des Anschlags auf die Synagoge in Halle auf ihre 15 Minuten. Am 30. Oktober 2019 vertickten sie in einem Teleshopping-Format ein Gerät namens „Entkräfter“, das auf Knopfdruck rechtspopulistische Äußerungen widerlegen könne.

Sendung vom 29. Mai 2019, YouTube: Joko & Klaas Live – 15 Minuten | ProSieben

In der diesjährigen neuen Staffel flimmerten die ersten 15 Minuten am 6. Mai 2020 über die Bildschirme. Bei diesem sogenannten „Corona-Pro7-RTL-Spezial mit Pfiff“ saßen beide vor einem Fernseher und kommentierten das Programm von RTL. Hier enterten Joko & Klaas die Grenzzäune des Fernsehmarktes. Wie Piraten wilderten die beiden nonchalant in den Konkurrenz- und Abgrenzungsgewohnheiten des TV-Marktes, was offensichtlich auch Senderverantwortliche grübeln ließ.

 

Mit der Spielshow Joko & Klaas gegen Pro7 und dem 15 Minuten-Ableger ist ein Format am Start, das auf eine denkwürdige Weise auch den Fernsehmarkt reflektiert, in dem Sendeminuten, insbesondere zur Primetime, Vermögenswerte darstellen, die teuer und begehrt sind. Bei Joko & Klaas kommt hinzu, dass sie zu bedeutenden Influencern im deutschen Fernsehmarkt geworden sind. Kids und oft auch deren Eltern achten darauf, was die beiden produzieren. Insofern haben wir es mit wertvollen Sendeminuten auch hinsichtlich der Aufmerksamkeitsökonomie zu tun. Sie nutzten sie nicht zur hippen Selbstvermarktung, sondern zu einer Fokussierung auf Problemzonen. Gut so!
Joko & Klaas LIVE – 15 Minuten erhielt 2020 den Grimme-Preis. In der Begründung heißt es unter anderem: „Dermaßen prominent platzierte und minimalistisch gestaltete Redezeit für gesellschaftliche Belange erhalten engagierte Menschen im linearen Fernsehen nicht oft – schon gar nicht in der Primetime eines großen Privatsenders. […] Mit der Verknüpfung von Haltung und Unterhaltung überraschen Klaas Heufer-Umlauf und Joko Winterscheidt nicht nur ihre Stammzuschauer*innen, sondern gleich einen ganzen Fernsehsender.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.

 

Links und Quellen u.a.:

 

 

Alle Links wurden zuletzt abgerufen am 19. Mai 2020

Über Uwe Breitenborn

Dr. Uwe Breitenborn, hauptamtlicher Prüfer der FSF, Dozent und Autor, Bildungsreferent der Medienwerkstatt Potsdam, zahlreiche Veröffentlichungen zur Mediengeschichte, Musiksoziologie, und Kulturwissenschaft. Von 2014-2019 Vertretung der Professur Onlinejournalismus an der Hochschule Magdeburg-Stendal. Zuvor u.a. Arbeit an der Martin-Luther-Universität Halle und beim DRA Babelsberg.