Kinderrechte go digital

Am 24. März veröffentlichte der Kinderrechtsausschuss der Vereinten Nationen (UN-Kinderrechtsausschuss) den General Comment No. 25 zu den Kinderrechten in der digitalen Umgebung. Aus kinderrechtlicher Sicht ist das Dokument ein Meilenstein: Es erkennt die Geltung von Kinderrechten in einer digitalen Umgebung auf höchster internationaler Ebene an, zeichnet mit Hilfe von Kinderstimmen Probleme bei der Verwirklichung auf und empfiehlt konkrete Maßnahmen zur Bewältigung und Vermeidung von Kinderrechtsverletzungen für Staaten und Unternehmen.

Was ist ein General Comment?

Ein General Comment, zu Deutsch Allgemeiner Kommentar, ist die Auslegung eines unabhängigen Überwachungsorgans eines Menschenrechtsvertrags zu dessen Bestimmungen, thematischen Fragen oder seinen Arbeitsmethoden. Allgemeine Kommentare versuchen oft, die Berichtsverpflichtungen der Vertragsstaaten zu überwachen und schlagen Ansätze zur Umsetzung von Vertragsbestimmungen vor. Ein Allgemeiner Kommentar ist nicht Teil des Menschenrechtsvertrags und dementsprechend auch nicht rechtlich bindend. Im besten Fall hilft er allerdings den Mitgliedsstaaten, Menschenrechte zu verstehen und besser zu verwirklichen, da er Hinweise und Auslegungen zu wichtigen Fragen beinhaltet.

Im März 2021 veröffentlichte nun der UN-Kinderrechtsausschuss den General Comment No. 25 on children’s rights in relation to the digital environment (Allgemeiner Kommentar Nr. 25 zu Kinderrechten in der digitalen Umgebung). Wie der Titel schon andeutet, beschreibt, analysiert und kommentiert das Dokument ausführlich die Kinderrechte in einer digitalen Umgebung. Der UN-Kinderrechtsausschuss selbst überwacht seit 1991 die Einhaltung der Rechte, die in der UN-Kinderrechtskonvention festgelegt wurden. Die Kinderrechtskonvention ist mit 196 Vertragsstaaten (alle außer den USA) der am meisten ratifizierte Menschenrechtsvertrag überhaupt.

Was beinhaltet der General Comment No. 25?

Grundsätzlich stellt der General Comment fest, dass Kinderrechte in der digitalen Umgebung gelten müssen, damit das Internet den Heranwachsenden in bestmöglicher Weise dienen kann. Auch der Jugendmedienschutz spielt hierbei eine große Rolle. Den Mitgliedsstaaten der Kinderrechtskonvention wird zusätzlich mit dem Kommentar eine Beschreibung an die Hand gegeben, welche Schritte notwendig sind, um die Rechte der Kinder in allen Umgebungen – einschließlich der digitalen  – zu respektieren, zu schützen und zu erfüllen.

Dabei stützt sich der Allgemeine Kommentar auf die vier Leitprinzipien der Kinderrechtskonvention:

  • das Diskriminierungsverbot
  • das Wohl des Kindes
  • das Recht auf Leben, Überleben und Entwicklung
  • die Berücksichtigung des Kindeswillens

Bei der Umsetzung empfiehlt der Kommentar außerdem, dass die Staaten die sich noch zu entwickelnden Fähigkeiten des Kindes als Befähigungsprinzip respektieren: nicht jedes Kind ist gleich, sollte aber gleich behandelt werden. Zudem beinhaltet der General Comment auch einen Katalog konkreter Maßnahmen-Empfehlungen zur Durchsetzung der Kinderrechte: von der Gesetzgebung und einer umfassenden Politik und  Strategie über die Zuweisung von finanziellen Mitteln, Datenerhebung und einer unabhängigen Überwachung bis hin zur Verbreitung der Information, Bewusstseinsbildung an Schulen und Regulierung von Werbung und Marketing. Querschnittsthemen wie Gewalt gegen Kinder, Kinder mit Behinderungen oder besondere Schutzmaßnahmen hinsichtlich des Schutzes vor Ausbeutung und Zwangsrekrutierung werden immer mitgedacht.

Eines wird beim Durchlesen des Allgemeinen Kommentars schnell klar: Alle Menschenrechte von Kindern, wie bspw. die Meinungsfreiheit, das Recht auf Privatsphäre und das Recht auf eine Identität, gelten in der digitalen Umgebung gleichermaßen wie in der analogen Welt. Eine Unterscheidung beider Realitäten war schon lange, besonders aus Sicht der konsultierten Kinder, hinfällig.

Was macht den General Comment so besonders?

Drei Eigenschaften des General Comments stechen besonders heraus: die weltweite Konsultation mit Kindern, die Anerkennung einer kinderrechtlichen Verantwortung von Unternehmen und das besondere Augenmerk auf das Thema Datenschutz.

Der General Comment ist das Ergebnis aus drei Jahren Arbeit im UN-Kinderrechtsausschuss zwischen 40 Nationalsaaten und hunderten Organisationen sowie Expertisen aus 28 Ländern. Unter der Leitung der Organisation der 5Rights Foundation wurden 709 Kinder aus 27 Ländern in 69 Workshops zu ihren Rechten in der digitalen Umwelt befragt und konsultiert. Die wichtigsten Ergebnisse lassen sich dabei wie folgt zusammenfassen: Kinder sehen sehr viel weniger eine Trennung zwischen der analogen und digitalen Welt und erkennen immer mehr an, dass die beiden Wirklichkeiten sowohl voneinander abhängig sind als auch ineinander übergehen. Sie beschreiben zudem das Internet überwiegend als positive Chance für die Verwirklichung ihrer Rechte. Technologie definieren Heranwachsende als lebenswichtig für ihr Recht auf den Zugang zu Information, sei es für die Bildung, die Teilnahme am politischen und gesellschaftlichen Leben oder für ihre Gesundheit. Allerdings hat die Konsultation gleichzeitig auch ergeben, dass es vielerorts immer noch hinsichtlich eines Zugangs zu technischer Infrastruktur bzw. mobilen Endgeräten hakt – Mädchen sind davon besonders betroffen. Zusätzlich fehlt es an qualifiziertem Lehrpersonal, das Jugendliche bei ihren digitalen Aktivitäten unterstützen könnte. Interessant ist ebenfalls, dass viele Kinder sich um die Verbreitung von Falschinformationen sorgen und nicht unbedingt dazu neigen, Medienunternehmen zu trauen. Als Ergebnis der Kinderrechtskonsultation wurde eine kinderfreundliche Version des Allgemeinen Kommentars veröffentlicht, worin Kinder in ihren eigenen Worten das Dokument erklären. Eine Übersetzung in die deutsche Sprache mit Beteiligung von Heranwachsenden ist geplant.

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In our own words: Young people’s version of general comment No. 25 from 5Rights Foundation on Vimeo.

Will man die zweite Besonderheit des General Comment verstehen, ist es wichtig anzumerken, dass er nicht aus einem Vakuum heraus entstanden ist, sondern sich auf diverse, bereits sehr anerkannte Expertisen und Erfahrungen anderer UN-Menschenrechtsorgane stützt. So bezieht sich der General Comment auch auf die UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte (engl. UN Guiding Principles on Business and Human Rights) von 2011, welche globale Standards zur Verhütung und Behebung von Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang mit Wirtschaftstätigkeit beschreibt. In einem globalen Wirtschaftssystem wurden (multinationalen) Unternehmen endlich eine menschenrechtliche Verantwortung attestiert.  Aus der kinderrechtlichen Perspektive empfiehlt der UN-Kinderrechtsausschuss nun, dass alle Unternehmenssektoren (einschließlich gemeinnütziger Organisationen), die Kinderrechte direkt oder indirekt durch die Bereitstellung ihrer Dienstleistungen und Produkte in einer digitalen Umgebung berühren, dazu verpflichtet sind, die Rechte der Kinder zu respektieren und den Missbrauch ihrer besonders schutzwürdigen Position zu verhindern. Auch die Mitgliedsstaaten werden in die Pflicht genommen, sicherzustellen, dass alle betroffenen Organisationen dieser Verantwortung nachkommen, indem sie regulatorische Rahmenbedingungen, Branchenkodizes und Dienstleistungsbedingungen einführen, welche den höchsten ethischen, datenschutzrechtlichen und sicherheitstechnischen Standards genügen. Gleichzeitig sollen die Unternehmen dazu ermutigt werden, öffentliche Informationen sowie zugängliche und rechtzeitige Beratung bereitzustellen, um die Kinder bei ihren digitalen Aktivitäten positiv zu unterstützen. Eine altersgerechte Erklärung der Bedingungen zur Nutzung von digitalen Dienstleistungen (AGBs) wäre beispielsweise ein erster Schritt in eine Welt, in der Kinder die digitale Welt besser verstehen und bewerten können.

Zuletzt wird in dem Allgemeinen Kommentar ein besonderes Augenmerk auf das Recht auf Privatsphäre von Kindern gelegt. Dieser Fokus ist auch ein Ergebnis der Kinderkonsultation: Durch die Skandale der letzten Jahre sind Heranwachsende immer mehr für die teilweise fragwürdigen Datenerhebungspraktiken privater Stellen sensibilisiert worden. Sie fordern daher, mehr Information darüber zu erhalten, wie ihre Daten erhoben, gespeichert und verwendet werden. Diese Forderung spiegelt sich auch im Kommentar wider, indem der UN-Kinderrechtsausschuss den Vertragsstaaten empfiehlt, die Erstellung von Profilen oder die gezielte Ansprache von Kindern jeden Alters zu kommerziellen Zwecken auf Grundlage von digitalen Aufzeichnungen ihrer tatsächlichen oder abgeleiteten Verhaltensweisen gesetzlich zu verbieten. Wird dieser Empfehlung gefolgt, bedeutet dies eine erhebliche Verschärfung der bestehenden Europäischen Datenschutz-Grundverordnung.

Und was bedeutet das in der Praxis?

In der Praxis bedeutet der Kommentar insbesondere, dass Handlungsbedarf besteht.

„Die Mahnung des UN-Kinderrechteausschusses zu mehr Investitionen in technologische Infrastruktur der Schulen und Fortbildungen von Lehrkräften muss Ansporn für Bund, Länder und Kommunen sein, den Digitalpakt Schule zügiger als bisher umzusetzen. Die Ausstattung mit technischen Geräten darf aber keine Einbahnstraße sein. Es ist unerlässlich, die technische Ausstattung mit individuellen Schulkonzepten zu verbinden, die sich an der Lebenswirklichkeit der Kinder und Jugendlichen orientieren und Medien pädagogisch-didaktisch einsetzen. Nur so kann ein zeitgemäßes Unterrichts- und Schulkonzept entstehen, das auch nach der Corona-Pandemie dringend benötigt wird“,

kommentiert der Präsident des Deutschen Kinderhilfswerks (dkhw) Thomas Krüger. Das Deutsche Kinderhilfswerk hatte in Deutschland die Organisation der Expert:innenrunde zu dem General Comment übernommen.

Auf politischer Ebene ist die Reform des Jugendschutzgesetzes ein Schritt in die richtige Richtung, eben weil es die Bedürfnisse und Interessen von Heranwachsenden und Eltern in den Mittelpunkt stellt. Ob es auch praktikabel und effizient ist, wird sich ab Mai zeigen. Allerdings kann die Politik allein die digitale Welt nicht kindgerechter machen, sondern nur den Rahmen dafür vorgeben. Um Kinderrechte zu verwirklichen, braucht es ein starkes wie ebenso breites Bündnis, in dem sich private, profitorientierte und gemeinnützige digitale Akteure selbst dazu verpflichten, das Internet in einen möglichst sicheren und nützlichen Raum für die Generation von morgen zu gestalten. Die Beteiligung der betroffenen Kinder in Entscheidungsprozessen, die Ausbildung und Schulung von kompetentem Lehrpersonal und das Treffen von vorbeugenden (technischen) Maßnahmen zum Jugendschutz sind dabei wichtige Schritte, die auf den Weg dahin umgesetzt werden müssen.

Die FSF hat sich dem Expert*innenkreis für Kinderrechte in der digitalen Welt des Deutschen Kinderhilfswerkes angeschlossen.

 

Quellen und Links

Links zuletzt geprüft am 09. April 2021

Über Elizabeth Ávila González

Elizabeth Avila hat Internationales Recht mit Fokus auf Menschenrechte und Medien in Dresden, Paris und Wrocław studiert. Sie unterstützt seit 2020 die FSF in der Geschäftsstelle als Assistenz der Geschäftsführung sowie als jugendschutzrechtliche Referentin. Besonders am Herzen liegt ihr das Thema Datenschutz.